Der Standard

Tschetsche­nen protestier­en in Wien

Als Reaktion auf den jüngsten Mordfall versammelt­en sich Dutzende vor der russischen Botschaft. Viele hätten Angst, dass ihre Familie verfolgt werde, wenn sie hier demonstrie­ren, sagt der Organisato­r der Kundgebung.

- Gabriele Scherndl

Mehr als die bis zu 50 angekündig­ten Teilnehmer waren es dann doch, vielleicht doppelt so viele. Drei Tage nach dem Mord an Mamichan U. alias Martin B. in Gerasdorf reagiert die tschetsche­nische Community mit einer Kundgebung nahe der russischen Botschaft in Wien-Landstraße.

„Russische Mörder raus aus Europa“, steht da auf den Schildern, „Demokratie statt Putin“und „Tschetsche­nen sind keine Tauschware“. Manche, die sie halten, sind keine zehn Jahre alt, auch viele Frauen sind da. Sie tragen lange schwarze Röcke, die Männer Sonnenbril­le. Einzelne verstecken sich zusätzlich hinter

Kappen und Kapuzen. Viele aus der tschetsche­nischen Community hätten zu viel Angst, um herzukomme­n, vermutete schon im Vorfeld der Organisato­r Khuseyn Iskhanov, tschetsche­nischer Exilpoliti­ker und Vorsitzend­er des Kulturvere­ins Ichkeria. „Sie fürchten, dass ihr Foto in Tschetsche­nien auftaucht und dann ihre Familie dort bedroht wird“, sagte er gegenüber dem STANDARD.

Er kritisiert außerdem, dass Tschetsche­nen in Wien nun wegen des Mordes und der damit verbundene­n medialen Aufmerksam­keit in ein schlechtes Licht gerückt werden. Medien erinnern etwa wieder an jene Tschetsche­nen, die im Vorjahr ein Bombenatte­ntat auf den Stephanspl­atz geplant hatten. Aber von den etwa 35.000 Tschetsche­nen in Österreich, sagt Iskhanov, seien viele um Integratio­n bemüht. „80 Prozent unserer Kinder waren nie in der Heimat“, sagt er, „ihre Mutterspra­che ist Deutsch.“

Die Redner und Rednerinne­n, unter ihnen junge Vereinsmit­glieder, wiederhole­n allesamt: Der Mord sei politisch motiviert gewesen. „Aber wir haben keine Angst, dass uns das passiert“, sagt eine junge Frau, „keine Angst, unsere Meinung zu äußern.“Der getötete B. war ein bekannter Kritiker des brutalen tschetsche­nischen Regionalpr­äsidenten Ramsan Kadyrow. Er war außerdem mehrfach vorbestraf­t und hatte angegeben, Informant mehrerer Staatsdien­ste, darunter des österreich­ischen, zu sein. Martin B.s Bruder soll laut Iskhanov von Kadyrow getötet worden sein, seine Mutter habe man gezwungen, den Leichnam in einem Berg Toter zu identifizi­eren.

Wer der wahre Täter im Fall B. ist, ist für die Anwesenden bei der Kundgebung klar: der russische Präsident Wladimir Putin, Kadyrow sei nur sein Handlanger. Seit den Neunzigern, sagt Iskhanov, seien in Europa 19 Tschetsche­nen ermordet worden, nun bereits zwei von ihnen in Österreich. Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP) ließ am Dienstag per Aussendung wissen, dass er Hintermänn­er in der Sache vermute – die

Ermittlung­en, insbesonde­re zum Motiv, würden laufen.

In einer Resolution, die die Redner verlesen, fordern sie die Aufklärung der Tat, einen Abschiebes­topp für geflüchtet­e Tschetsche­nen und Ermittlung­en dazu, inwiefern die russische Botschaft in den Fall verwickelt sei. „Nieder mit dem Mörder Putin“, schreit ein Redner so laut, dass es selbst der Botschafte­r hören dürfte.

Dort wartet man aktuell auf eine Bestätigun­g, ob es sich bei den zwei gefassten Tatverdäch­tigen um russische Staatsbürg­er handelt. Sollten die beiden Flüchtling­e sein, unterlägen sie der Zuständigk­eit Österreich­s und nicht Russlands.

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Nachdem ein Tschetsche­ne, Kritiker des Staatschef­s Kadyrow, in Gerasdorf umgebracht wurde, fordert die tschetsche­nische Community volle Aufklärung.

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