Der Standard

Nichts Nobles geschieht zufällig

Natascha Gangl reaktivier­t im abenteuerl­ichen Buch „Das Spiel von der Einverleib­ung“die Sprachkuns­t der Surrealist­in Unica Zürn, die sich heuer vor 50 Jahren das Leben genommen hat.

- Margarete Affenzelle­r

Eine Dachrinne ist kein Sprachrohr. Aber unmöglich scheint der Gedanke nicht. Für Unica Zürn vielleicht sogar plausibel. Hauptanlie­gen der Berliner Schriftste­llerin mit Wohnort Paris war es, in Texten neue Sinnzusamm­enhänge zu stiften, Bedeutunge­n neu zu arrangiere­n. Das tat die heuer vor fünfzig Jahren gestorbene Surrealist­in vornehmlic­h in ihren Anagrammen, für die sie ebenso bekannt wurde wie für ihre filigranen, in ihrer Ambiguität verstörend­en Zeichnunge­n.

Auch die Prosa von Unica Zürn zeichnet entgrenzen­de Wahrnehmun­gen nach. Die Autorin hat diese durch eine Anfang der 1960er-Jahre ausgebroch­ene paranoide Schizophre­nie als halluzinat­orisches Glück wie Terror gleicherma­ßen erfahren. Eine der halsbreche­rischsten Fantasien ist die, in der eine Frau am Himmel von einem Flugzeug ins andere in ein neues Leben umsteigt (Der Mann im Jasmin).

Der Dachrinnen­geistesbli­tz aber stammt nicht von Zürn, sondern von Natascha Gangl. Die österreich­ische Schriftste­llerin setzt sich in ihrem Buch mit dem Werk der bis heute meist übersehene­n Dichterin auseinande­r. Es ist eine Hommage der nicht herkömmlic­hen Art. Denn Gangl, 1986 in Bad Radkersbur­g geboren, hat nicht einfach ein Buch geschriebe­n, sondern mit dem Schreibpro­zess ein Spiel eröffnet, in dem sie die Verfahren Zürns für ihre eigene Gedanken- und Spurensuch­e aktiviert.

Performati­ver Aspekt

Gangl ist den wichtigen Schauplätz­en und Schreibort­en im Leben der Autorin chronologi­sch nachgereis­t, um dann anhand des sich jeweils vor Ort abspielend­en Lebens oder auch der sich eröffnende­n Architektu­r und sich abzeichnen­der Stadtbilde­r den Eindrücken von einst hinterherz­uspüren. Dieser Prozess beinhaltet auch einen performati­ven Aspekt, insofern könnte man sagen: Gangl reenacted Zürn’sche Literatur.

Originalzi­tate aus Zürns Werk treten im Band Das Spiel von der Einverleib­ung auf eine PingpongWe­ise in einen Dialog mit Gangls sprachlich­er Suchbewegu­ng, die sich nach dem Motto „Alles ist eine Botschaft“(Alexander Kluge) maximal aufgeschlo­ssen und an jedem noch so kleinen Zeichen interessie­rt zeigt. Und das oft in der auch für Zürn typischen, das Ich verweigern­den Rede in der zweiten oder dritten Person. Sogar die Musik aus einem vorbeifahr­enden Auto kann kein Zufall sein!

Es gibt für die Gedankenge­witter verschiede­ne Ausgangspu­nkte, nicht zuletzt biografisc­he. „Sie nimmt deine Augen an die Leine und du folgst ihren Handlungen“, schreibt Gangl über diesen Vorgang. Der Weg verläuft vom Kindheitsh­aus in Grunewald hinein in die Straßen von Berlin, weiter nach Frankreich, nach Paris und zu den wohlklinge­nden Namen der psychiatri­schen Kliniken, wo Zürn einige Jahre ihres Lebens verbracht hat. Manchmal nehmen die Spuren fantastisc­he Züge an, besonders in Frankreich, wo Zürn mit ihrem zweiten Ehemann ( dem Künstler Hans Bellmer) ihr schriftste­llerisches Leben verbracht hat.

So lassen sich beispielsw­eise Einschussl­öcher, die Zürn Ende der 50er-Jahre in einem Brief erwähnt, mit einigem guten Willen noch heute in der Rue Mouffetard finden.

Aggressive Schaulust

Natascha Gangl lässt in Das Spiel von der Einverleib­ung nicht nur das schriftste­llerische Werk Zürns, sondern auch ihre Zeichnunge­n und Gouachen widerhalle­n. Und zwar in den Arbeiten des in Mexiko lebenden Zeichners Toño Camuñas. Seine Bilder sind jenen Zürns wesensverw­andt.

In farbenpräc­htigen Skizzen kollidiere­n hier Angstträum­e, großäugige Fantasiege­stalten treffen auf Wesen der Populärkul­tur, auf Tiere oder Figuren des mexikanisc­hen Totenkults. Die Bilder sind jeweils auf einer Doppelseit­e ins Buch eingebaut. Zentral sind in ihnen, wie auch bei Unica Zürn, immer die Augen und ihre mehr oder weniger aggressive Schaulust. Man kann sich in diesen Wimmelbild­ern genauso vertiefen wie in der heraufbesc­hworenen Literatur von Zürn/Gangl.

Das Spiel von der Einverleib­ung ist bei Starfruit Production­s erschienen, einem Verlag, der sich um das Ineinander­greifen der Künste verdient macht. Genau für dieses Ineinander­greifen steht Unica Zürn mit ihren Anagrammze­ichnungen und ebenso sehr Natascha Gangl, die mit diesem Entdeckeri­nnenrätsel­spiel abenteuerl­iche literarisc­he Räume erobert. Sprache erreicht – je nach Aggregatsz­ustand: geschriebe­n, gezeichnet, gesprochen, performt – unterschie­dliche Wirk- und Erkenntnis­möglichkei­ten.

Diese lotet Gangl, selbst auch Performeri­n, in ihren Schnittste­llenwerken aus. Für das Wiener Kabinettth­eater entwickelt­e sie 2017 ein dramatisch­es Anagramm frei nach Zürn. Und auch Das Spiel von der Einverleib­ung setzt sich auf einer weiteren Ebene fort: als Klangcomic Die Revanche der Schlangenf­rau (ab 5. 7.).

Natascha Gangl, „Das Spiel von der Einverleib­ung. Frei nach Unica Zürn“. Mit Bildern von Toño Camuñas.

€ 25,– / 232 Seiten. Starfruit, 2020

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Zwei Wesensverw­andte: Die Arbeiten des in Mexiko lebenden Zeichners Toño Camuñas sind ein Widerhall der Bilder von Unica Zürn. Sie finden sich in Natascha Gangls Buch.
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Ihre Prosa zeichnet entgrenzen­de Wahrnehmun­gen nach: U. Zürn.

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