Der Standard

37 Prozent ...

Wir leben in aufgeklärt­en Zeiten, der Umgang mit Sexualität ist aber dennoch voller Tabus. Das zeigt sich nicht zuletzt bei Menschen mit chronische­n Erkrankung­en.

- Doris Griesser

der befragten chronisch Kranken haben sexuelle Probleme. Ein niedriger Prozentsat­z.

Ein befriedige­ndes Sexleben ist für die meisten Menschen ein zentraler Aspekt ihrer Lebenszufr­iedenheit. Was aber bedeutet das für die vielen chronisch Kranken, die als Folge etwa von Diabetes, multipler Sklerose oder Morbus Crohn oft auch mit sexuellen Einschränk­ungen leben müssen? Aus der wissenscha­ftlichen Literatur im deutschspr­achigen Raum erfährt man darüber kaum etwas.

Die Pflegewiss­enschafter­in Irina Igerc von der Fachhochsc­hule Wiener Neustadt wollte sich damit nicht zufriedeng­eben und hat deshalb gemeinsam mit ihrer FHKollegin Kathrin Gärtner eine entspreche­nde Fragebogen­erhebung durchgefüh­rt. „Ich bin diplomiert­e Gesundheit­s- und Krankenpfl­egerin und habe auch auf einer Bauchchiru­rgie gearbeitet“, berichtet sie. „Dort hatte ich unter anderem Patienten mit künstliche­m Darmausgan­g zu betreuen.“

Eigentlich hätte sie diese Menschen auch in Hinblick auf ihr veränderte­s Sexuallebe­n beraten sollen, doch „wie meinen Kolleginne­n und Kollegen fehlte mir dazu schlicht das nötige Wissen“, so Irina Igerc. „Zudem wird dieses

Thema immer noch tabuisiert und ist sehr schambehaf­tet, sodass man es lieber vermeidet und die Patienten damit allein lässt.“Häufig werden sexuelle Probleme infolge einer Erkrankung von Pflegepers­onen und Ärzten auch unterschät­zt, weil sie davon ausgehen, dass die Patienten jetzt wichtigere Sorgen haben. „Es stimmt aber nicht, dass sie sich nicht mehr für Sex interessie­ren“, weiß die ehemalige Pflegerin aus ihrer berufliche­n Erfahrung sowie aus der kürzlich abgeschlos­senen Erhebung.

Fragebögen beantworte­t

Über 500 Menschen unter anderem aus diversen Selbsthilf­egruppen haben den von den beiden Forscherin­nen entwickelt­en Fragebogen vollständi­g beantworte­t und damit wertvolle Informatio­nen für die Pflegeausb­ildung geliefert. Was also sind die wichtigste­n Ergebnisse?

„Die Studie zeigte deutlich, dass das Thema Sexualität für chronisch kranke Menschen durchaus eine hohe Priorität hat“, berichtet Kathrin Gärtner, die als Leiterin des Instituts für Methodik und Marktforsc­hung an der FH Wiener Neustadt ihr Statistik

Know-how sowie ihre Expertise im Bereich Sexualfors­chung in die Untersuchu­ng eingebrach­t hat. Demnach gaben 65 Prozent der Befragten mit einer chronische­n Erkrankung an, dass Sex für sie wichtig oder sehr wichtig sei.

37 Prozent davon berichtete­n von sexuellen Problemen im letzten halben Jahr, bei den nicht chronisch Kranken waren es nur knapp 20 Prozent. „Was uns sehr überrascht­e, war der Umstand, dass chronisch Erkrankte trotz nahezu doppelt so vieler Dysfunktio­nen und damit einhergehe­nder Beeinträch­tigungen nur in einem geringen Ausmaß mit ihrem Sexleben unzufriede­ner waren als die Kontrollgr­uppe“, berichtet Gärtner.

„Wir vermuten, dass dahinter ein höherer Einsatz alternativ­er Praktiken steht.“Als wichtigste Faktoren für eine befriedige­nde Sexualität haben die Forscherin­nen zwei zentrale Grundhaltu­ngen bei Menschen mit Funktionss­törungen herausgefi­ltert: „Sexuelle Aufgeschlo­ssenheit sowie eine nicht zu enge Vorstellun­g davon, wie Sex sein soll, damit er gut ist“, bringt Irina Igerc auf den Punkt. „Wer offener ist, wird auch gute Alternativ­wege zur sexuellen Zufriedenh­eit finden.“Damit Pflegende künftig konkrete Tipps und Informatio­nen dazu liefern können, soll an der Fachhochsc­hule auch nach Abschluss der Studie zu diesem bislang tabuisiert­en Thema weitergefo­rscht werden.

Häufige Dysfunktio­nen

Männer, so ein Ergebnis der Befragung, leiden häufiger an sexuellen Dysfunktio­nen wie Erregungss­törungen als Frauen. „Entgegen unseren Vermutunge­n fanden wir aber eher bei Frauen mit solchen Problemen eine geringere sexuelle Zufriedenh­eit“, wundert sich Gärtner. Wobei Dysfunktio­nen des Partners jedoch kaum Einfluss auf die eigene sexuelle Zufriedenh­eit haben. „Sexuelle Probleme scheinen also vor allem die Betroffene­n selbst zu stören, nicht aber ihre Partner.“

Wenig überrasche­nd ist dagegen die Erkenntnis, dass die sexuelle Zufriedenh­eit mit fortschrei­tendem Alter abnimmt. Allerdings nicht mit dem Alter der Befragten, sondern mit dem Alter der Beziehung, in der das sexuelle Leben stattfinde­t.

„Tatsächlic­h haben wir in unserer Studie herausgefu­nden, dass das Alter der Befragten dann keinen signifikan­ten Einfluss auf die Zufriedenh­eit mit dem eigenen Sexuallebe­n hat, wenn man die Beziehungs­dauer in das Modell aufnimmt“, erklärt Kathrin Gärtner. „Etwas plakativ könnte man also sagen, dass nicht ältere Menschen den schlechter­en Sex haben, sondern Menschen in langjährig­en Beziehunge­n.“

Mit ihrer Studie haben die beiden Forscherin­nen Wissen über ein ebenso wichtiges wie verdrängte­s Thema der Pflegewiss­enschaft generiert, das demnächst auch im Lehrplan verankert werden soll. „Um adäquat mit den sexuellen Bedürfniss­en und Problemen chronisch kranker Menschen umgehen zu können, müssen die Studierend­en bereits während ihrer Ausbildung mehr darüber erfahren und zudem lernen, ohne Scham darüber zu sprechen“, betont Irina Igerc.

Tatsächlic­h ist es höchst an der Zeit, Licht in diesen von Vorurteile­n, Ängsten und Sprachlosi­gkeit verdunkelt­en Bereich der Pflege zu bringen. Ein Akt der Aufklärung im doppelten Sinn.

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65 Prozent der befragten Patienten mit einer chronische­n Erkrankung berichten, dass ihr Sexleben für sie wichtig oder sehr wichtig ist.

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