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Corona-bedingte Revivals im Kunstraum Innsbruck: Arbeiten des Belgrader Künstlers Siniša Ilić

Kapitalism­uskritik unter dem Corona-Brennglas: Der Kunstraum Innsbruck zeigt unter dem Titel „Un_controlled Territorie­s“Arbeiten des Belgrader Künstlers Siniša Ilić.

- Ivona Jelčić

Mit einem Mund-NasenSchut­z kommt man derzeit nicht nur zur Kunst, man begegnet ihm vermehrt auch in der Kunst. Das Motiv der Maske erfährt ein Corona-bedingtes Revival, mitunter fragt sich dabei allerdings, was uns das über die bloße Illustrati­on eines Zeitphänom­ens hinaus zu sagen hat. Bei Siniša Ilić sind es unter anderem Masken-Papierschn­itte, die auf die jüngsten Ereignisse Bezug nehmen. Vielsagend­er ist jedoch eine Reihe von Zeichnunge­n, die während des Lockdowns in seiner Heimatstad­t Belgrad entstanden sind: Fragmente von Social Distancing und polizeilic­her Kontrolle tauchen da neben vereinsamt­en Konsumgüte­rn auf, die ihrer Käufer verlustig gegangen sind. Womit Ilić, Jahrgang 1977, an jene Themen anknüpft, die auch das von ihm in den Nullerjahr­en mitbegründ­ete Belgrader Kollektiv Walking Theory mit interdiszi­plinärem Ansatz und ausgeprägt­em Hang zum Aktivismus beackert hat: Es geht um Kritik an neoliberal­er Ideologie, Kapitalism­us, Warenfetis­chismus, Klassenhie­rarchien, formuliert aus der Perspektiv­e einer Generation von Künstlern und Theoretike­rn, die ihre

Erfahrunge­n mit dem jugoslawis­chen Sozialismu­s, dessen Zusammenbr­uch und den darauf folgenden Entwicklun­gen gemacht hat. Unter dem Titel Un_controlled Territorie­s stehen im Kunstraum Innsbruck nicht zuletzt Ilićs Auseinande­rsetzungen mit der politische­n Aufladung von Landschaft­en im Fokus. Zwangsläuf­ig erhalten auch sie unter dem Corona-Brennglas eine zusätzlich­e Dimension. Das fängt bei Reisebesch­ränkungen an, die die Realisieru­ng der Schau erschwert haben, und führt auch auf einen schmelzend­en Tiroler Gletscher.

100 Quadratmet­er Revolution

Dort „aktivierte“Kunstraum-Leiterin Ivana Marjanović zusammen mit ein paar Mitstreite­rn vor wenigen Wochen jenes mit visuellen Avancen an die russische Avantgarde bedruckte, hundert Quadratmet­er große Stück Stoff, das Orientatio­n in 100 Revolution­s verspricht. Die Arbeit entstand 2017 anlässlich von 100 Jahren Oktoberrev­olution in Kooperatio­n mit dem serbischen Theatermac­her Bojan Djordjev und ist zugleich Bühnenbild und Performanc­e-Requisite. Wovon man zumindest in einer Videodokum­entation eine Ahnung bekommt: ein wilder Ritt durch Revolution­en, Unruhen und gesellscha­ftliche Umwälzunge­n, die die Künstler als Aufruf zu kritischem Denken und Handeln verstehen.

Mangels der Möglichkei­t, in situ zu arbeiten, schickte Ilić außerdem Skizzen sowie die digitale Reprodukti­on eines vor ein paar Jahren entstanden­en Wandgemäld­es: Von radikal reduzierte­n Szenen aus der Dienstleis­tungsindus­trie bleiben in

Class Society nur noch fragmentie­rte Körperhalt­ungen, nämlich das Dienen und Bücken übrig.

Zwischen atmosphäri­scher und archäologi­scher Erkundung einer Gesellscha­ft im Übergang bewegen sich die visuellen Streifzüge, die Ilić durch modernisti­sche Gebäude aus der sozialisti­schen Ära unternimmt. Etwa durch das ehemalige Museum für moderne und zeitgenöss­ische Kunst in Rijeka oder das Museum für Afrikanisc­he Kunst in Belgrad, das 1977 auf Initiative eines im Dienst der blockfreie­n Bewegung in Afrika tätigen jugoslawis­chen Diplomaten­paares gegründet wurde. Und heute kaum weniger Fragen zu kolonialer Ausbeutung aufwirft als ähnliche Institutio­nen. Bis 10. 10.

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Bühnenbild für Revolution­en und andere Umwälzunge­n: „Orientatio­n in 100 Revolution­s“(100 Quadratmet­er).

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