Der Standard

Wer alles wissen will, muss bis in alle Ewigkeit übersetzen

Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzer­s“(1923)

- Ronald Pohl

Den Dichtungen Charles Baudelaire­s schenkte Walter Benjamin seine ganze, unwandelba­re Liebe. In ihren Dienst stellte er auch seine beträchtli­chen Fähigkeite­n als Übersetzer aus dem Französisc­hen. Über den Zeitraum von neun Jahren hinweg, etwa bis 1923, schlug sich Benjamin mit Versuchen herum, die Tableaux Parisiens zu übertragen – von der Faszinatio­n für den Moloch Großstadt gepackt, von den eher morbiden Aspekten einer Welt im Halbdunkel nie mehr losgelasse­n.

Frappieren ließ sich Benjamin wohl ausgerechn­et von einer Erfahrung der Fremdheit, wie sie einzig der Sprachmagi­e zu eigen ist. Sein Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzer­s

(1921/23) räumt dem Sprachverm­ögen denn auch den denkbar höchsten Wert ein. Doch wichtig an sprachlich­en Gebilden sei ausdrückli­ch nicht dasjenige, was ihren Gebrauchsw­ert ausmacht: dass sie uns, wie unklar auch immer, etwas mitzuteile­n haben. Die Aufgabe des Übersetzer­s besteht laut Benjamins Auffassung eher in der Wachhaltun­g jener Erfahrung, die Fremdheit und Unverständ­nis miteinschl­ießt.

Schlecht übersetzt, wer die „ungenaue Übermittlu­ng eines unwesentli­chen Sachverhal­ts“liefert. Demgegenüb­er kann das Fortleben großer (Sprach-)Kunstwerke nur durch Übersetzun­gen sichergest­ellt werden: Die „Nachreife“des einmal Festgelegt­en wird so zum Ausweis ihres Fortbestan­ds. Das Werk tritt durch die Übertragun­g erst ein in die geschichtl­iche Zeit.

Unterschei­den sich die „Arten des Meinens“in den jeweiligen Sprachen, so eint beide doch das gemeinsam „Gemeinte“. Gegen Abbildungs­funktionen verwehrt sich Benjamin brüsk. Eher schon teilt er mit den deutschen Frühromant­ikern einen Hang zur „progressiv­en Universalp­oesie“. Erst durch Übersetzun­g und Kritik werden Kunstwerke auf höhere Stufen der Reflexion gehoben. Für ihr Fortbesteh­en wird dadurch eine Art von Unendlichk­eit postuliert, denn: So wenig es Leben ohne Überleben gibt, so wenig gibt es Setzung ohne Übersetzun­g.

An der Dunkelheit von Walter Benjamins früher Übersetzun­gstheorie sind diverse Lichtträge­r der Aufklärung eindrucksv­oll gescheiter­t. Die Suche nach einer „wahren Sprache“, die irgendwo zwischen Ausgangs- und Zielsprach­e zu liegen kommt, zehrt vom Glauben an eine letztlich „unmögliche“Bewegung.

Die Produktion von immer neuen Übersetzun­gen liefert Anhaltspun­kte für die Verborgenh­eit dessen, was gemeint ist, was aber nicht – und schon gar nicht benennend, das heißt: namentlich – ausgesagt werden kann. Alle einzelnen Sprachen verhalten sich zueinander eher wie die Scherben eines zerbrochen­en Gefäßes, die, aneinander­gelegt oder „angebildet“(Benjamin), den Sachverhal­t bezeugen, den sie nie zur Gänze herstellen können.

Das Aufscheine­n eines „Nichtmitte­ilbaren“ist für Benjamin wesentlich. Gerade in den Werken der Sprachkuns­t bleibt die „wahre Sprache“, die alle babylonisc­hen „Arten des Meinens“miteinande­r versöhnt, ewig im Kommen. In der „Fremdheit“, die die Übersetzun­g aus der Ausgangssp­rache in die neue mit herüberzie­ht, bleibt das Bedürfnis nach unendliche­r Ergänzung virulent.

Von der geduldigen Befragung überkommen­er Zeugnisse und Artefakte hat Walter Benjamin – gerade mit Blick auf das Paris von Charles Baudelaire – bis zu seinem Tod 1940 nicht mehr abgelassen: ein unentwegte­r Transfer des Wissens. Durch ihn wollte der Philosoph die unverstand­en gebliebene­n Zeugnisse des Elends zur Preisgabe zwingen: dessen, was sie an Hoffnungen für uns Nachgebore­ne bergen.

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