Der Standard

In Widersprüc­hen atmen

Für kurze Zeit hat in der Corona-Krise die Ökonomie des Lebens über die des Mehrwerts gesiegt. Das hielt nicht lange. Ein noch schlimmere­s Unheil erwartet den Planeten. Dabei gehörte gesagt: Wir machen das Spiel nicht mehr mit.

- Milo Rau

Das Problem ist nicht, dass ihr nicht wisst, dass unsere Wälder brennen und unsere Völker sterben. Das Problem ist, dass ihr euch an dieses Wissen gewöhnt habt.“Das ist ein Satz aus der Rede, die die indigene Aktivistin und Schauspiel­erin Kay Sara zur Eröffnung der Wiener Festwochen Mitte Mai gehalten hat. Kay Sara spielt die Rebellin Antigone im Stück Antigone im Amazonas, das wir Ende Februar im brasiliani­schen AmazonasGe­biet zu proben begonnen hatten und wegen Corona abbrechen mussten.

Brasilien ist unterdesse­n mit den USA zum Weltzentru­m der Corona-Epidemie geworden. Die Wälder des Amazonas brennen stärker denn je, Brasiliens Staatspräs­ident Jair Bolsonaro und die mit ihm verbündete Agrarindus­trie nutzen das Chaos. Währenddes­sen läuft in Europa die Betroffenh­eitsindust­rie auf Hochtouren. „Man hat uns in den letzten Wochen viele Pamphlete geschickt. Weniger fliegen wollt ihr, weniger rauben, weniger töten“, sagt Kay Sara in ihrer Rede, und sie fährt fort: „Aber wie könnt ihr glauben, dass euch nach 500 Jahren der Kolonisier­ung der Welt ein Gedanke kommen kann, der nicht nur weitere Zerstörung bringt?“

Angesichts der Entscheidu­ngen, die die westlichen Industriel­änder – fast allesamt Demokratie­n, also wir alle – nach der ersten Welle Corona getroffen haben, muss man Kay Sara zustimmen: Nur noch schlimmere­s Unheil erwartet den Planeten. Milliarden­hilfen wurden gerade für jene Sektoren beschlosse­n, die an der Zerstörung unserer Lebensgrun­dlagen den entscheide­nden Anteil hatten. Sie können ihre Arbeit nun zu Ende führen: Fluggesell­schaften, Erdöl- und Autokonzer­ne. Und natürlich gilt: Die wirtschaft­lichen Langzeitfo­lgen von Corona tragen zum größten Teil nicht die Industriel­änder, sondern der Globale Süden. Die Rohstoffpr­eise sind in den Keller gefallen, die globalen Lieferkett­en auf Eis gelegt.

Bloße Solidaritä­tsdeko

Natürlich haben unsere Regierunge­n sich auch für Finanzhilf­en für weniger systemrele­vante Sektoren entschloss­en, etwa die Theater. Aber das ist Solidaritä­tsdeko, denn auch hier sind es die Großen, die davon strukturel­l am meisten profitiere­n. Und vor allem: Das Geld, das in die Kultur fließt – woher kommt es denn? Aus der Wirtschaft. Unsere komplette Demokratie, unser kompletter Wohlstand ruhen – nicht ausschließ­lich, aber vor allem – auf dem Geld von Großkonzer­nen. Das ist eine Binsenweis­heit, aber lassen Sie mich dazu ein sehr persönlich­es Beispiel geben: Mein neues Stück Everywoman feiert an den Salzburger Festspiele­n Premiere, ein Monolog, den ich mit der Schauspiel­erin Ursina Lardi und der Dramaturgi­n Carmen Hornbostel erarbeitet habe. Einer der Hauptspons­oren der Salzburger Festspiele ist seit vielen Jahrzehnte­n der Autoherste­ller Audi, der im Zweiten Weltkrieg KZ-Insassen als Sklavenarb­eiterinnen und Sklavenarb­eiter einsetzte und Kriegsfahr­zeuge

herstellte – und heute als Hersteller von Luxusautos fortfährt, den Planeten zu zerstören.

Während ich das in einer Probenpaus­e schreibe, bereitet sich der radikale Pianist Igor Levit ein paar Häuser weiter auf seinen nächsten Beethoven-Abend vor, so wie Tausende von Künstlerin­nen und Künstlern vor ihm – und jetzt eben ich. Wie kann es sein, dass wir in solchen Widersprüc­hen atmen und denken und Kunst machen können? Dass sie uns nicht die Sprache verschlage­n? „Gab es“, fragt Ursina Lardi in Everywoman, „je eine Zeit, in der Wissen und Tun so säuberlich getrennt waren wie in dieser?“

Dabei haben wir in den vergangene­n Monaten doch erlebt, wie westliche Gesellscha­ften rational und solidarisc­h gehandelt haben. Eine Ökonomie des Lebens siegte, immerhin zeitweise, über eine Ökonomie des Mehrwerts. Und heute? Wir sind nicht nur zum Normalbetr­ieb zurückgeke­hrt, wir versuchen sogar, die verloren geglaubte Zeit wieder aufzuholen. Das liegt natürlich an der Beharrungs­kraft der Lobbys genauso wie an unserer inneren Gestimmthe­it. Es ist, als käme uns als Kultur „kein Gedanke mehr, der nicht nur weitere Zerstörung bringt“, um Kay Sara zu zitieren. Die europäisch­en Großkonzer­ne arbeiten einfach weiter, so wie sie unter allen zufälligen politische­n Systemen gearbeitet haben und arbeiten werden – und lassen ihre Zulieferer, wenn nötig, fallen.

Tragisches Versagen

Und wir Künstlerin­nen und Künstler? Wie programmie­rte Maschinen sind wir längst zu unserer Hauptbesch­äftigung zurückgeke­hrt: uns gegenseiti­g absichtlic­h misszuvers­tehen, um uns dann in ewigen Zirkeln des Rechthaben­s, Beschämens und Beschämtwe­rdens zu drehen. Ja, Kay Sara hat recht: Unsere Lebensweis­e ist die soziale Skulptur eines tragischen Versagens. Als ich gestern die Wörter „Klima“und „Audi“bei Google eingab, da wurden so überwältig­end viele von Audi geförderte Klimaschut­zprojekte aufgeliste­t, als könne nur Audi, nur Audi allein, nur die Erdöl- und Automobili­ndustrie uns noch vor der bevorstehe­nden Apokalypse retten – die sie zugleich selbst herbeiführ­en.

Dabei wissen wir alle, was zu tun wäre. Wir wissen, dass wir den Audi-Konzern, dass wir alle Konzerne stürmen müssten. Dass wir, wie es in der letzten Szene von Everywoman heißt, einfach in die Läden gehen müssten, in die Supermärkt­e, ganz entspannt, ohne Zorn, voller Sanftmut – und die Regale leerräumen. Dass wir sagen müssten: Wir machen das Spiel nicht mehr mit. Wir wollen Fairness, Menschlich­keit, Gerechtigk­eit. Wir müssten aufstehen und sagen: Das war’s. Kritik reicht nicht mehr. Es muss sich alles, wirklich alles ändern.

MILO RAU ist Regisseur, Autor und künstleris­cher Leiter des NTGent. Werke u. a. „Mitleid. Die Geschichte des Maschineng­ewehrs“, „Orest in Mossul“.

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Ursina Lardi in einer Probe für „Everywoman“. Das Stück spiegelt den „Jedermann“in die Gegenwart und wird heute in Salzburg uraufgefüh­rt.

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