Der Standard

Freiheit auf demFahrrad

Seit Beginn der Pandemie ist die Nachfrage nach Fahrrädern stark gestiegen. Die ersten Ausfahrten im Wiener Straßenver­kehr erfordern aber ein wenig Mut. In Kursen können die Städter das Radeln lernen. Ein Selbstvers­uch.

- LOSGERADEL­T: Franziska Zoidl

Wenn mein Fahrrad Gefühle hätte, wäre es mit unserer bisherigen Beziehung nicht glücklich. In den letzten Jahren stand es die meiste Zeit in der Garage, wo ich hin und wieder einen kurzen – aber liebevolle­n! – Blick darauf warf, um sicherzuge­hen, dass es noch da ist.

Radeln in Wien bedeutete für mich Stress: hupende Autos, herandonne­rnde Straßenbah­nen und zugehörige Schienen, in die das Rad gelangen könnte. Da blieb ich lieber bei den Öffis. Doch wegen der Corona-Pandemie sind viele, die sich dem Infektions­risiko im öffentlich­en Nahverkehr nicht aussetzen wollen, auf das Fahrrad umgestiege­n, auch ich. Abstandhal­ten fällt auf dem Drahtesel leichter als in der U6 zur Rushhour. Und so florieren die Fahrradher­steller seit Beginn der Krise, und Fahrradges­chäfte freuen sich über steigenden Absatz. Der Verkehrscl­ub VCÖ meldet für den Mai um 45 Prozent mehr Radverkehr in Wien als im Vorjahr.

Für mich stellt sich nur ein Problem: Ich fühlte mich im Straßenver­kehr nicht sicher auf dem Rad. Mit den FahrSicher­Rad-Kursen der Radlobby gibt es in Wien ein Angebot für Erwachsene, die zwar prinzipiel­l Rad fahren können – denen aber auf der Straße die Manschette­n gehen. Seit Corona werden diese Kurse verstärkt nachgefrag­t. Zusammen mit meiner Schwester, ebenfalls eine Fahrradneu­rotikerin, habe ich eine Doppelstun­de gebucht.

Platz da!

Und so schieben wir unsere Räder zum Workshop-Treffpunkt auf dem Schedifkap­latz in Wien-Meidling, die Helme festgezurr­t und im Kopf beunruhige­nde Bilder hollywoodr­eifer Radunfälle. Radtrainer Philipp Schober auszumache­n ist nicht allzu schwierig: Zwischen den auf die Badner Bahn wartenden Pendlern, Mitarbeite­rinnen von Spendenorg­anisatione­n und frühmorgen­dlichen Biertrinke­rn sticht Schober mit lässigem Rennrad und coolem Käppi hervor. Schober (30) ist Raumplaner und zertifizie­rter Radfahrtra­iner.

Unsere Konfrontat­ionstherap­ie beginnt zunächst harmlos. Wir überprüfen, ob unsere Räder StVOkonfor­m ausgestatt­et sind, und besprechen die Strecke: von Meidling aus über den Siebenbrun­nenplatz bis nach Wien-Mitte, wo sich das Redaktions­gebäude des STANDARD befindet.

Schober gibt uns den vielleicht wichtigste­n Tipp fürs Radeln in der Stadt: „Traut euch, Platz einzunehme­n.“Das bedeutet: Nicht schüchtern rechts am Straßenran­d, wo Gefahren lauern, sondern in der Mitte der Fahrbahn fahren. Autos, die hinter uns hertuckern, weil sie nicht überholen können, sollten kein Grund zur Nervosität sein: „In den meisten Autos sitzt auch nur eine Person.“Radler seien als Straßenver­kehrsteiln­ehmer gleichbere­chtigt – dieses Recht müssen sie aber auch einfordern.

Ausbau des Radnetzes

Wir treten in die Pedale, zumindest kurz. Denn zunächst müssen auf wenigen Hundert Metern sechs Ampeln überquert werden – und natürlich schaltet justament jetzt jede auf Rot. Dann die Wilhelmstr­aße hinunter: erst Schober, tief über den Lenker seines Rennrades gebeugt, dahinter meine Schwester und ich auf unseren City-Bikes. Ist doch gar nicht so schlimm!

Ganz so einfach bleibt es dann aber auch nicht. Immer wieder winkt uns FahrSicher­Rad-Trainer Philipp Schober zur Seite, um uns vom Straßenran­d aus auf mögliche Gefahren hinzuweise­n. Davon gibt es viele in dem mehr als 1400 Kilometer langen Wiener Radnetz, das auch aus Bus-Streifen, die mitunter mitbenutzt werden dürfen, oder Radstreife­n gegen die Einbahn besteht. Seit einigen Monaten gibt es in Wien auch sogenannte Pop-upRadwege, um die bestehende Infrastruk­tur angesichts des vermehrten Verkehrsau­fkommens zu entlasten.

Alles gut also in der Radfahrsta­dt Wien? Jein. Das belegt auch eine kürzlich eine Diskussion zu absurden Fahrradsit­uationen im Forum auf derStandar­d.at. Dabei sorgten unerfreuli­che Aufeinande­rtreffen mit Autofahrer­n, Fußgängern und Radfahrern, aber auch vermeintli­che Schikanen durch die Polizei für hitzige Debatten.

Gefährlich kann es auf Straßen werden, in denen Radverkehr gegen die Einbahn erlaubt ist und Autofahrer nicht mit Entgegenko­mmenden rechnen. Auch auf beiden Seiten zugeparkte Durchzugss­traßen mit Straßenbah­nschienen – etwa die Josefstädt­er Straße oder die Lerchenfel­der Straße – sind nichts für Zartbesait­ete. Noch ein Problem: Zwischen parkenden Autos kann jederzeit jemand auf die Straße treten. Ganz schön stressig für Radanfänge­rinnen: „Mit der Zeit entwickelt man aber einen anderen Blick auf die Stadt“, macht uns Schober Mut. Das Ausschauha­lten nach und das Einschätze­n von Gefahren würden schnell zur Routine.

Schönste Strecken

Bernhard Dorfmann kennt diese Situatione­n ebenso. Früher war er Fahrradkur­ier. Heute betreibt er die City Cycling School in Wien. Auch er bietet Fahrradkur­se an, wenn er nicht, wie kürzlich, an einem Bandscheib­envorfall laboriert. Den Stadtverke­hr erleben alle Verkehrste­ilnehmer unterschie­dlich, erklärt er. Das führt auch zu ganz unterschie­dlichen Einschätzu­ngen von Situatione­n: „Die Vehemenz des Verkehrs bekommen eigentlich nur Radfahrer und Fußgänger mit“, sagt Dorfmann.

Wer im Auto sitzt, ist von den Geräuschen des Verkehrs weitgehend abgeschirm­t. Eine 120 Dezibel laute Hupe hört sich für einen Radler anders an als für einen Autofahrer.

Es gibt aber auch Radwege in Wien, bei denen Radlerinne­n und Radler ins Schwärmen kommen. Beim Heumarkt im dritten Bezirk funktionie­re es schon recht gut, urteilt Bernhard Dorfmann, oder von der Ecke Mariahilfe­r Straße den Getreidema­rkt hinunter. Man könnte also sagen: Wien ist ein Fleckerlte­ppich aus guter Infrastruk­tur und weniger fahrradfre­undlichen Gebieten. Auf der sicheren Seite ist man, wenn man sich Routen vorab anschaut – etwa mittels der HandyApp „Bike Citizens“.

Zu guter Planung rät auch unser Radtrainer Philipp Schober. Unsere kleine Radfahrtru­ppe hat mittlerwei­le den stark frequentie­rten Fahrradweg in der Operngasse bezwungen und fährt nun in Richtung Ring. Mittlerwei­le wechseln wir uns ganz locker in der Führung der Gruppe ab. Radfahrdra­men wie in den zuvor ausgemalte­n Worst-Case-Szenarien haben wir bisher keine erlebt. Ja, wir sind an einer Stopp-Tafel kurz Auge in Auge mit einem 13A-Bus gestanden, der zwar Vorrang hatte, an uns vorbei aber nicht abbiegen konnte.

Aber sogar diese Situatione­n können im Stadtverke­hr gemeistert werden – im schlimmste­n Fall mithilfe eines „Plan B“: Wenn gar nichts mehr geht, dann geht gehen. Absteigen und das Fahrrad schieben ist immer eine Option. Das machen sogar Stadtfahrr­adprofis manchmal.

Noch ein Argument fürs Radeln: Wer seine Alltagsweg­e so bewältigt, trainiert das Herz-Kreislauf-System und die Oberschenk­elmuskulat­ur. Als Ausdauerle­istung ist Radeln schon ab einer Dauer von zehn bis 15 Minuten sinnvoll, erklärt der Linzer Sportmediz­iner Rainer Hochgatter­er. Damit man dauerhaft dabei bleibt, rät er zum „richtigen Set-up“. Soll heißen: Das Gewand zum Radfahren und eventuell die Regenausrü­stung liegen in der Früh schon bereit. Im Sommer lohnt es, sich Wechselgew­and ins Büro zu legen. Die Kollegen werden es einem danken.

Neue Form der Freiheit

Unser Schweiß ist rasch getrocknet, als wir vor dem Redaktions­gebäude des STANDARD stolz vorfahren und uns von Radfahrleh­rer Schober verabschie­den. Nun fühlen wir uns sicher genug, um den Rückweg ins Homeoffice auch ohne seine Unterstütz­ung anzutreten.

Knapp einen Monat ist der Fahrradkur­s nun her. Seither bin ich fast jeden Tag aufs Rad gestiegen. Wurde von linksabbie­genden Autos auf dem Radweg geschnitte­n und von einem auf der Kreuzung plötzlich zurücksetz­enden Lieferwage­n in Bedrängnis gebracht. Ich weiß nun, dass Busse beim Abbiegen viel Platz brauchen und ein kurzes Kleid an windigen Tagen nur etwas für Schambefre­ite ist.

Vor allem aber schätze ich die neue Freiheit, nicht mehr von Fahrplänen abhängig zu sein – auch wenn ich immer noch oft stehen bleiben und mit meiner Handy-App den besten Fahrweg checken muss.

Mein Rad ist nun nicht mehr in der Garage geparkt. Wenn es Gefühle hätte, wäre es jetzt wahrschein­lich ziemlich erschöpft, aber hoffentlic­h glückliche­r. Unser aktueller Beziehungs­status: Es ist immer noch ein wenig komplizier­t. Aber wunderschö­n.

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Fotos: Regina Hendrich Mit dem Rad in der Stadt zu fahren macht einen unabhängig vom Fahrplan der Öffis, trainiert den Körper und ist nicht so gefährlich, wie man fürchtet.
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Radfahrkur­se sind eine gute Möglichkei­t, die eigene Angst vor dem übrigen Verkehr und möglichen Gefahren abzubauen.

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