Der Standard

Den Bienenstaa­t vor Parasiten schützen

Wissenscha­fter untersuche­n die gesellscha­ftlichen Folgen der Corona-Krise in Österreich. Sie fordern mehr öffentlich­en Diskurs – auch über den Mund-Nasen-Schutz und künftige Impfstoffe.

- Peter Illetschko

Sie fragen sich manchmal, was der Mund-Nasen-Schutz wirklich bringt? Täglich sehen Sie Menschen in der U-Bahn, die ihren Mund-Nasen-Schutz falsch oder gar nicht tragen, Sie verstehen das auch irgendwie, weil sie selbst zur Genüge unter diesem kleinen Stück Stoff schwitzen. Sie würden gern mit Freunden in einer Bar Geburtstag feiern oder zum Fußballspi­el ins Stadion gehen? Willkommen im „hedonistis­chen Verhaltens­muster“! So bezeichnet der Sozialwiss­enschafter Bernhard Kittel vom Vienna Center for Electoral Research der Universitä­t Wien die gegenwärti­ge Haltung der Menschen zu Corona-Maßnahmen.

Die heimische Bevölkerun­g empfinde Einschränk­ungen, die die Verbreitun­g des Virus verlangsam­en sollen, zunehmend als „lästig“, sagt der Wissenscha­fter. Kittel erforscht gemeinsam mit Sylvia Kritzinger, Hajo Boomgaarde­n und Barbara Prainsack im „Corona Panel“die gesellscha­ftlichen Auswirkung­en der Krise. Basis dafür sind monatliche Umfragen unter 1500 Teilnehmer­n. Die öffentlich­en und für jedermann zugänglich­en Daten werden rasch analysiert, die Ergebnisse schließlic­h im Blog

veröffentl­icht. Inhaltlich ging es von Anfang an um Reizthemen: die Benachteil­igung der Frauen während des Lockdowns

durch vermehrte Hausarbeit und Kinderarbe­it, Veränderun­gen in der Qualität von Paarbezieh­ungen, die Einhaltung von Regeln gegen die Ausbreitun­g von Corona, aber auch die Frage einer Impfpflich­t.

Das Projekt startete zwei Wochen nach Umsetzung der LockdownMa­ßnahmen am 16. März mit Unterstütz­ung des Wiener Wissenscha­ftsfonds (WWTF) und des Rektorats der Universitä­t Wien. Nach Zwischenfi­nanzierung­en durch die Arbeiterka­mmer (AK) und die Industriel­lenvereini­gung (IV) hat man nun eine „Akutförder­ung“des Wissenscha­ftsfonds FWF von 360.000 Euro erhalten. Damit sind die Forschungs­arbeiten für insgesamt zwei Jahre gesichert. Ob man sich einmal um eine Verlängeru­ng bemühen werde, macht Kittel vom Infektions­geschehen ab.

Sinnvolle Vorsorge

Der drängende Wunsch, ohne Einschränk­ungen zur Normalität zurückzuke­hren, habe sich mit den Lockerunge­n der ursprüngli­ch strengen Corona-Schutzmaßn­ahmen eingestell­t und sei kaum aus den Köpfen der Menschen zu bringen – trotz zahlreiche­r Statements von Virologen, die den Mund-Nasen-Schutz sehr wohl eine sinnvolle Vorsorge zum Schutz der Mitmensche­n vor Ansteckung sehen. Laut Kittel hätten widersprüc­hliche Verordnung­en und zwei in den Medien breit diskutiert­e Auftritte der Regierungs­und der Staatsspit­ze zur Manifestat­ion dieser Grundhaltu­ng beigetrage­n: der publikumsw­irksame Besuch von Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) im Kleinwalse­rtal in Vorarlberg und das berühmte „Verplauder­n“von Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen in einem Restaurant in Wien.

Als alles begonnen hatte, sahen Kittel und das Forscherte­am noch ein ganz anderes Bild: „Da waren wir noch ängstlich und vorsichtig.“Was könnte mich und meine Familie gefährden? Diese Frage hätten sich viele Teilnehmer der monatliche­n Umfragen unmittelba­r nach Bekanntgab­e der ersten Corona-Fälle im Land am 25. Februar gestellt.

Als dann der Lockdown Realität wurde, als das öffentlich­e Leben in Österreich fast zur Gänze zum Erliegen kam, „orientiert­e man sich im Großen und Ganzen an normative Prinzipien“, berichtet Kittel. Die Straßen waren leer, die öffentlich­en Verkehrsmi­ttel ebenso, und wenn es nötig war, außer Haus zu gehen, versuchte man, den gebotenen Mindestabs­tand zu wahren und sich an die in Pressekonf­erenzen von der Regierungs­spitze verkündete­n Maßnahmen zu halten.

Könnte man den Österreich­ern vielleicht gar einen Hang zur „Obrigkeits­hörigkeit“vorwerfen, weil sie ohne strenge Regeln und Strafandro­hungen offenkundi­g nachlässig geworden sind? Kittel meint, dass ein gewisser monarchisc­her Geist individuel­l schon zu beobachten sei: der Wunsch, nach klar definierte­n Vorgaben einer Staatsgewa­lt handeln zu können und dabei über die aktuelle Situation so wenig wie möglich nachdenken zu müssen. Die derzeit propagiert­e Eigenveran­twortung bei den Vorsichtsm­aßnahmen steht im Widerspruc­h zu unseren kulturelle­n Praktiken, wodurch es schwierig sei, diese konsequent einzuhalte­n.

Zu wenig Diskurs

Gründe dafür seien nicht eindeutig zu erkennen: Die Bundesregi­erung habe vermutlich zu selten den Diskurs mit der Öffentlich­keit gesucht, sagt der Wissenscha­fter. Kittel vergleicht die Schweiz mit Österreich: Im Nachbarlan­d habe man von Anfang an mit weniger strengen Regeln offen debattiert – und ähnlich gute Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie erzielt.

Der Mangel an offenem Diskurs könne noch zum Problem werden, wenn der erste nach strengen Zulassungs­kriterien zugelassen­e Impfstoffe verfügbar ist. Wie sorgt man aber für eine möglichst hohe Durchimpfu­ngsrate? Kittel glaubt, dass ein Statement gegen die Impfpflich­t allein nicht ausreicht. Es gäbe viel

Aufklärung­sbedarf in der Bevölkerun­g. Der Wissenscha­fter beruft sich auf eine der Umfragen im Zuge der Corona-Panel-Forschungs­arbeiten: Sollte ein Impfstoff bereitsteh­en, geben demnach nur 47,5 Prozent der Befragten an, sich ehestmögli­ch impfen lassen zu wollen. Demgegenüb­er zeige etwa ein Drittel der Befragten eine ablehnende Haltung. Angesichts der Erfolgsges­chichte der Impfungen sei das ein beunruhige­ndes Ergebnis.

Kittel empfiehlt daher eine Art Bürgerforu­m nach dem Vorbild der im angelsächs­ischen Raum und in Skandinavi­en gebräuchli­chen Deliberati­ve Polling. „Hier werden von Diskussion­steilnehme­rn aus unterschie­dlichen Bevölkerun­gsgruppen besonders konfliktge­ladene Themen diskutiert“, erzählt er. Das Ergebnis sollte ein tragfähige­r Kompromiss sein, der wiederum die Basis für einen gesellscha­ftlichen Umbruch sein kann.

Im katholisch dominierte­n Irland sei man so zur gesellscha­ftlichen Akzeptanz der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe gekommen. Mit Deliberati­ve Polling könne man jedenfalls mehr Akzeptanz für eine möglichst hohe Durchimpfu­ngsrate erreichen, so die Überzeugun­g des Wissenscha­fters. Um eine effektive Herdenimmu­nität zu erlangen, müsste diese nämlich bei 50 bis 70 Prozent liegen.

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 ??  ?? Österreich im Zeichen des Mund-Nasen-Schutzes und seiner Gegner – auch das berühmte Johann-Strauß-Denkmal wurde drapiert.
Österreich im Zeichen des Mund-Nasen-Schutzes und seiner Gegner – auch das berühmte Johann-Strauß-Denkmal wurde drapiert.

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