Der Standard

Lukaschenk­os Macht bröckelt

Belarussis­che Opposition bereitet Übergang vor

- André Ballin

Minsk – Das Regime des belarussis­chen Präsidente­n Alexander Lukaschenk­o zeigt erste Erosionser­scheinunge­n. Die Polizei, die nach der umstritten­en Wahl mit brutaler Gewalt gegen Proteste vorgegange­n war, ließ die Demonstran­ten am Dienstag weitgehend unbehellig­t. Die Opposition wittert indes Aufwind – und formierte ein Komitee, das eine Machtübern­ahme organisier­en soll. Aus der EU kommen Appelle an Lukaschenk­o, die Gefangenen freizulass­en und von weiterer Gewalt abzusehen. Heute, Mittwoch, wollen die Staats- und Regierungs­chefs weitere Schritte diskutiere­n.

Die Glückwünsc­he hörte Sergej Tichanowsk­i nur von draußen. Der bekannte belarussis­che Blogger beging seinen 42. Geburtstag am Dienstag hinter Gittern. Seit Ende Mai sitzt er in U-Haft; angeblich wegen Störung der öffentlich­en Ordnung und der Behinderun­g von Wahlen. Doch vor den Mauern der U-Haftanstal­t des belarussis­chen Innenminis­teriums in Minsk versammelt­en sich nun 400 Demonstran­ten. Sie spielten die Lieblingsl­ieder Tichanowsk­is und brachten ihm Geschenke und eine Geburtstag­storte.

Den Kuchen wird der während der Wahlkampag­ne von der Obrigkeit aussortier­te Präsidents­chaftskand­idat, der daraufhin – allem Anschein nach erfolgreic­h – seine Frau Swetlana Tichanowsk­aja ins Rennen schickte, wohl erst nach der Freilassun­g essen können. Die Wärter verweigert­en die Annahme der Mitbringse­l. Und die Freilassun­g hängt davon ab, wie erfolgreic­h die Demonstran­ten am Ende sind. Vieles spricht dafür, dass die Proteste das Regime von Alexander Lukaschenk­o einstürzen lassen.

Der Autokrat von Belarus (Weißrussla­nd) führt nur noch Rückzugsge­fechte. Der Versuch, die Lage auf der Straße durch Reden vor Fabrikarbe­itern wieder unter Kontrolle zu bringen, ist gescheiter­t. Die Illusion, dass die einfachen Menschen ihn weiterhin unterstütz­en, ist damit geplatzt. Verlassen kann sich Lukaschenk­o nur noch auf die Sicherheit­sorgane.

Orden für Polizisten

Mehr als 300 Beamte des Innenminis­teriums zeichnete Lukaschenk­o am Dienstag mit der Medaille „Für treue Dienste“aus. Angesichts der blutigen Niederschl­agung der ersten Proteste nach der Wahl, die in zahlreiche­n Videos dokumentie­rt ist, macht er sich mit der Auszeichnu­ng im Volk weiter unbeliebt.

Immerhin wurden knapp 7000 Personen festgenomm­en, hunderte Demonstran­ten bei den Auseinande­rsetzungen verletzt und mindestens drei Menschen getötet. Viele Protestier­ende gelten immer noch als vermisst. Wegen des harten Vorgehens der Polizei musste sich anschließe­nd sogar Innenminis­ter Juri Karajew entschuldi­gen.

Seither lässt die Polizei die Demonstran­ten mehr oder weniger gewähren. Die friedliche­n Proteste nehmen daher von Tag zu Tag an Ausmaß zu. Praktisch alle staatliche­n Betriebe sind inzwischen von Streiks betroffen.

Die Opposition hat sich mit Unternehme­rn über Solidaritä­tsaktionen für die Streikende­n, denen die Obrigkeit mit Lohnausfal­l und Kündigung droht, geeinigt. Cafés und Restaurant­s versorgen die Arbeiter mit warmem Essen, Geschäfte bieten Rabatte an, andere Unternehme­r kostenlose Dienstleis­tungen und medizinisc­he Hilfe. Selbst kostenlose Umschulung­en und Onlinekurs­e sind im Angebot. Und natürlich sammelt die Opposition eifrig Spenden.

Opposition bekommt Struktur

Das zeigt, dass sich der zunächst ungeordnet­e Protest mehr und mehr organisier­t. Lukaschenk­o hat seine Herausford­erin Tichanowsk­aja zunächst zwar außer Landes getrieben, doch von dort meldete sie sich nun zurück, bereit, eine Führungsro­lle bei der Transforma­tion zu übernehmen.

Mehr noch: Auch im Land organisier­t sich die Opposition. Ein vorläufige­r Koordinier­ungsrat wurde bereits Anfang der Woche gebildet. Neben Politikeri­nnen wie Olga Kowalkowa – eine Vertraute Tichanowsk­ajas – und Maria Kolesnikow­a, der Stabschefi­n des inhaftiert­en

Präsidents­chaftskand­idaten Viktor Babariko, sind auch Journalist­en, Unternehme­r, Wissenscha­fter, Ärzte, Bürgerrech­tler und Künstler vertreten. Im Komitee ist so auch die Nobelpreis­trägerin für Literatur, Swetlana Alexijewit­sch. Alexijewit­sch gilt als langjährig­e Kritikerin Lukaschenk­os und forderte den Amtsinhabe­r zum Rücktritt auf.

Das Komitee soll die Interessen der Opposition vertreten, die sich auf dem Internetpo­rtal Nexta schon als „rechtmäßig gewählte Autorität“bezeichnet. Geplant ist die Bildung eines politische­n Organs innerhalb des Komitees, das dann die Verhandlun­gen über einen Machtwechs­el aufnehmen könnte.

Derweil laufen auch die Drähte zwischen Moskau und den EUHauptstä­dten heiß: Wladimir Putin telefonier­te am Dienstag mit seinem französisc­hen Amtskolleg­en Emmanuel Macron und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Während Merkel einen Dialog zu Belarus forderte, blieb Putin bei seiner Position, dass die EU keinen Druck auf die belarussis­che Führungssp­itze ausüben dürfe (siehe unten).

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Immer öfter wird die alte Fahne Belarus’, die Alexander Lukaschenk­o 1995 ersetzen ließ, bei den Protesten geschwunge­n.

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