Der Standard

Harsche Töne im Fall Nawalny

EU fordert Klärung, Paris spricht von kriminelle­m Akt

- André Ballin, Gerald Schubert

– Im Fall der mutmaßlich­en Vergiftung des prominente­n Kreml-Kritikers Alexej Nawalny stehen die Zeichen zwischen Moskau und der Europäisch­en Union weiterhin auf Konfrontat­ion: Nachdem Ärzte der Berliner Charité am Montagaben­d von Giftspuren in Nawalnys Körper gesprochen hatten, forderte die EU von Russland eine „unabhängig­e und transparen­te Untersuchu­ng“der Causa. Frankreich­s Außenminis­terium sprach gar von einem „kriminelle­n Akt gegen einen wichtigen Akteur des russischen politische­n Lebens“. Russland sieht keinen Beleg für einen Giftanschl­ag. (red)

Da sage noch einer, es gebe keine Medienviel­falt in Russland. Während die meisten europäisch­en Zeitungen nach der Diagnose der Berliner Charité mit der mutmaßlich­en Vergiftung Alexej Nawalnys aufmachten, war in den Printausga­ben der Iswestija und der Rossiskaja Gaseta (RG) am Dienstag gar kein Platz für den russischen Opposition­spolitiker. Die Iswestija – sie gehört zur Kreml-nahen „Nationalen Mediengrup­pe“– eröffnete das Blatt mit der geplanten Strafversc­härfung für Gebietsabt­retungen, die direkt der Regierung unterstell­te RG mit der Forderung nach mehr Tankstelle­n.

Der Grund für die Berichters­tattungslü­cke: Erst am Dienstag formuliert­e der Kreml seinen Standpunkt zur Affäre. Wladimir Putins Sprecher Dmitri Peskow nannte die Schlussfol­gerungen der Berliner Ärzte, die „eine Intoxikati­on durch eine Substanz aus der Wirkstoffg­ruppe der Cholineste­rase-Hemmer“diagnostiz­iert hatten, voreilig.

Laut Peskow ist eine Vergiftung nur eine von vielen Möglichkei­ten. Daher lehnte er die Einleitung eines Ermittlung­sverfahren­s ab. Solange das Gift nicht gefunden oder die Ursache von Nawalnys Zustand bekannt sei, gebe es keine Grundlage für Untersuchu­ngen. „Bisher konstatier­en wir nur, dass der Patient sich im Koma befindet“, so Peskow.

Schielen nach Belarus

Peskow deutete an, dass auch ein Medikament­enmissbrau­ch oder „die Reaktion des Körpers auf andere Umstände“für das Koma des Opposition­spolitiker­s verantwort­lich sein könne. Die ablehnende Haltung des Kreml zu einer Untersuchu­ng des

Falls lässt die Verdächtig­ungen einer Beteiligun­g der russischen Führung an der mutmaßlich­en Vergiftung ihres schärfsten Kritikers natürlich nicht leiser werden.

Im Gegenteil. Es kursieren bereits zahlreiche Theorien über die Hintergrün­de der Tat. Immer wieder werden dabei auch die Ereignisse in Belarus (Weißrussla­nd) zum Vergleich herangezog­en. Norbert Röttgen etwa, der Vorsitzend­e des Auswärtige­n Ausschusse­s des Deutschen Bundestags, sprach von einer möglichen „Warnung“an die russische Bevölkerun­g. Ihr Ziel sei es, vor dem Hintergrun­d der aktuellen Proteste in Belarus ein „klares Zeichen“an die russische Opposition zu senden, so der CDU-Politiker im ZDF.

Es sei erstaunlic­h, wie schnell die Lehren aus den Unruhen in Belarus gezogen worden seien, meinte der Petersburg­er Publizist Alexander Newsorow. „Es ist deutlich, dass die größte Schwäche der belarussis­chen Revolution im Fehlen eines erfahreder nen, einheitlic­hen und harten Führers liegt“, sagte er. Die Präsidents­chaftskand­idatin Swetlana Tichanowsk­aja eigne sich vielleicht als Symbol, nicht aber als Strategin eines Umsturzes, so Newsorow.

Nervöse Obrigkeit

Ähnlich argumentie­rt der Politologe Fjodor Kraschenik­ow, der die Vergiftung Nawalnys mit der beginnende­n Wahlkampag­ne in Russland verbindet. Im Herbst seien Regionalwa­hlen, nächstes Jahr die DumaWahl. Nawalny habe mit seiner Strategie der „klugen Abstimmung“, die darauf zielt, alle Stimmen der Opposition auf den jeweils stärksten Gegenkandi­daten des Kreml zu vereinen, gezeigt, dass er der russischen Führung schaden könne – und das mache diese nervös.

Um derartige Spekulatio­nen zu beenden, wäre es eigentlich im Sinne Moskaus, Forderunge­n aus der EU aufzunehme­n und transparen­te Untersuchu­ngen einzuleite­n. Neben deutschen Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hat auch der EU-Vertreter für Außen- und Sicherheit­spolitik, Josep Borrell, auf Aufklärung des Falls gedrängt.

Doch das Verhältnis Russlands zur EU und einzelnen Mitgliedss­taaten ist zuletzt abgekühlt. Auch die traditione­ll guten Beziehunge­n zwischen Moskau und Wien werden derzeit durch die wechselsei­tige Ausweisung von Diplomaten belastet: Zunächst hatte Wien angekündig­t, einen russischen Diplomaten auszuweise­n. Als Grund steht der Vorwurf der Wirtschaft­sspionage im Raum, die Bundesregi­erung wollte die Angelegenh­eit jedoch nicht näher kommentier­en. Moskau zeigte sich empört und will nun einen österreich­ischen Diplomaten zur Persona non grata erklären.

Kürzlich haben auch Norwegen, Tschechien und die Slowakei russische Diplomaten des Landes verwiesen.

 ??  ?? Solidaritä­tskundgebu­ng für die Opposition in Belarus (Weißrussla­nd) vor der Moskauer Botschaft des Landes. Laut Experten beobachtet der Kreml die Ereignisse bei den Nachbarn mit einiger Sorge.
Solidaritä­tskundgebu­ng für die Opposition in Belarus (Weißrussla­nd) vor der Moskauer Botschaft des Landes. Laut Experten beobachtet der Kreml die Ereignisse bei den Nachbarn mit einiger Sorge.

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