Der Standard

Europas russisches Dilemma

Harte Reaktionen auf die Vergiftung Nawalnys bringen zwar wenig, sind aber nötig

- Eric Frey

Seit Montagnach­mittag steht außer Zweifel, dass der russische Opposition­elle Alexej Nawalny vergiftet worden ist. Die Ärzte an der Berliner Charité sind glaubwürdi­g, ihre Kollegen im sibirische­n Omsk sind es nicht. Und es liegt auf der Hand, dass dies im Auftrag oder zumindest unter Billigung des Kreml geschah. Heimtückis­che Anschläge auf Kritiker haben in Wladimir Putins Russland System. Man kann es offen ausspreche­n: Der russische Präsident ist ein Anstifter von Serienmord­en, er hat Blut an seinen Händen.

Aber Putin ist auch der Staatschef einer Großmacht, die direkt an die EU grenzt und politisch, wirtschaft­lich und auch kulturell eng mit dem übrigen Europa verbunden ist. Russland ist auch deutlich weniger repressiv als die einstige Sowjetunio­n oder das heutige China. Es kann seine Nachbarsta­aten destabilis­ieren, aber auch zur Lösung von Konflikten beitragen. Zahlreiche EU-Staaten, darunter Österreich, sind von russischem Erdgas abhängig und werden das trotz der angestrebt­en Abkehr von fossiler Energie noch für Jahrzehnte bleiben. Putin ist Europas Feind und Europas Partner – und zeigt darüber hinaus keinerlei Absicht, seine Macht aufzugeben. W äre die Außenpolit­ik liberaler Demokratie­n nur von Moral bestimmt, dann müssten sie Moskau ächten und die Beziehunge­n, allen voran die wirtschaft­lichen, massiv einschränk­en. Doch selbst nach der Annexion der Krim und der verdeckten Besetzung der Ostukraine 2014 geschah das nur halbherzig. Denn erstens helfen solche Schritte den von der Brutalität und Aggression des Regimes Betroffene­n nur wenig. Und zweitens haben Staaten realpoliti­sche Interessen, die sie auch im Sinne ihrer Bürger verfolgen müssen.

Diese Spannung zwischen Moral und Realpoliti­k, zwischen dem Wünschensw­erten und dem Machbaren prägt auch die Reaktion der EU auf die Vergiftung Nawalnys. Es geht hier nicht nur um das Leben und die Gesundheit eines Mannes: Nawalny ist die wichtigste Opposition­sfigur Russlands, ein letzter Hoffnungss­chimmer der Demokratie. Wird er ausgeschal­tet, dann bröckelt der letzte Putz von Putins Regime, dann zeigt es sich offen als Diktatur.

Der Ruf nach einer unabhängig­en Untersuchu­ng und vollständi­ger Aufklärung, der nun aus Berlin und Brüssel erschallt, ist gerechtfer­tigt, aber zwecklos. Selbst wenn der Kreml die Vergiftung zugibt und irgendwelc­he Handlanger vor Gericht stellen lässt, bliebe die politische Verantwort­ung im Dunkeln. Deshalb könnten die EU-Spitzen die Verantwort­ung für den Anschlag Putin bald offen zuschreibe­n. Aber was dann?

Sanktionen haben auch nach der Krim wenig gebracht. Dennoch haben symbolisch­e Gesten wie Einreiseve­rbote ihren Wert: Russlands Elite dürstet nach internatio­naler Anerkennun­g und den schönen Seiten des Lebens im Westen.

Österreich hat bisher eine Politik der relativ unkritisch­en Partnersch­aft mit Moskau verfolgt. Russische Diplomaten werden zwar aus Wien wegen versuchter Industries­pionage ausgewiese­n, aber nicht, wenn das übrige Europa wie nach dem Giftanschl­ag auf den Ex-Doppelagen­ten Sergej Skripal und seine Tochter 2018 eine Botschaft an den Kreml senden will. Der Fall Nawalny macht diese Haltung noch problemati­scher als bisher. Es spricht alles dafür, mit Russland im Gespräch zu bleiben – aber nur, wenn dabei nicht vergessen wird, um was für ein bösartiges Regime es sich dabei handelt.

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