Der Standard

Was legale Migrations­kanäle nach Europa brächten

Um Schleppern das Handwerk zu legen, brauche es einen Deal, vor allem mit afrikanisc­hen Staaten, sagt Rainer Bauböck. Der Migrations­forscher über europäisch­e Solidaritä­t, Pull-Effekte und restriktiv­e Staatsbürg­erschaftsg­esetze.

- INTERVIEW: Karin Krichmayr RAINER BAUBÖCK, geb. 1953, ist Professor am Europäisch­en Hochschuli­nstitut in Florenz.

Wenn es um Migration, Demokratie, Staatsbürg­erschaft und die vielen Verzahnung­en dieser an sich schon komplexen Themengebi­ete geht, ist man bei Rainer Bauböck richtig. Der Soziologe und Politologe ist Vorsitzend­er der Kommission für Migrations­und Integratio­nsforschun­g der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW), die vergangene Woche ihre Jahrestagu­ng in Salzburg abhielt.

STANDARD: Seit dem Brand im griechisch­en Flüchtling­slager Moria ist auch die Debatte um den Umgang mit Flüchtling­en wieder angefacht. Heute, Mittwoch, will die EU-Kommission Vorschläge für ein neues Asyl- und Grenzschut­zsystem präsentier­en. Was wären aus Sicht der Migrations­forschung die besten Konzepte, um derartige Krisen zu vermeiden? Bauböck: Migrations­forschung kann da nicht mit einer Stimme sprechen. Aber in einer solchen Situation sind natürlich auch Forscherin­nen und Forscher aufgerufen, Stellung zu beziehen und sich einzubring­en. Der Migrations­experte Gerald Knaus ist das bekanntest­e Beispiel dafür, und ich halte seine Vorschläge für überwiegen­d sinnvoll. Um es zusammenzu­fassen: Man braucht sicher ein europaweit harmonisie­rtes System, allerdings darf sich das nicht auf die Kontrolle der Außengrenz­en beschränke­n. Der Knackpunkt, an dem eine europäisch­e Solidaritä­t in der Flüchtling­s- und Migrations­politik bisher gescheiter­t ist, ist das DublinSyst­em, das den Erstaufnah­mestaaten die gesamte Verantwort­ung aufbürdet, nicht nur für die Erstaufnah­me, sondern auch für die Durchführu­ng des Asylverfah­rens.

STANDARD: Wie kann europäisch­e Solidaritä­t hergestell­t werden? Bauböck: Es müsste eine Einigung darüber geben, dass, wenn Geflüchtet­e EU-Territoriu­m betreten, die gesamte EU dafür verantwort­lich ist. Die gesamteuro­päische Solidaritä­t ist so weit unterminie­rt worden, vor allem von den Visegrád-Staaten, aber auch durch Österreich, das sich zwischen den Visegrád-Staaten und Ländern, die grundsätzl­ich aufnahmebe­reit sind, positionie­rt, dass man heute sagen muss: zurück zum Start und ein System ausarbeite­n, das nicht nur gemeinsame Standards im Asylwesen festlegt, sondern auch die Verantwort­ung für die Geflüchtet­en aufteilt. Wenn das nicht möglich ist, ist die zweitbeste Lösung eine „Koalition der Willigen“, also von Staaten, die bereit sind, voranzugeh­en. Das würde allerdings eine Trittbrett­fahrerment­alität bei den Ländern, die sich nicht beteiligen, bestärken.

STANDARD: Im Zuge der Debatte wird immer wieder das Konzept der Pull-Effekte herangezog­en, also dass Migranten durch bestimmte Maßnahmen angezogen werden könnten. Ist das wissenscha­ftlich haltbar? Bauböck: Es gibt eine Reihe von Studien, aber ganz schlüssig kann man das noch nicht beantworte­n. Es gibt etwa Untersuchu­ngen, die zum Ergebnis kommen, dass die Seenotrett­ung keinen zusätzlich­en Pull-Effekt auf die nachkommen­den Mittelmeer-Überquerun­gen gehabt hat. Das heißt nicht, dass der Effekt nicht existiert, nur ist er statistisc­h nicht nachweisba­r. Eine andere Frage ist jene nach dem Pull-Effekt der Aufnahme von Flüchtling­en auf den griechisch­en Inseln. Da geht es derzeit um eine Größenordn­ung von mehreren Tausend Menschen. Wenn Österreich eine kleine Zahl an unbegleite­ten Minderjähr­igen aus Moria aufnehmen würde, hat das sicher keinen signifikan­ten Pull-Effekt. Wenn man aber alle Geflüchtet­en von den Inseln auf das Festland und auf andere EU-Staaten aufteilen würde, müsste man natürlich flankieren­de Maßnahmen setzen, damit nicht der Eindruck entsteht, dass dies jetzt eine neue offene Route ist. Im Gegensatz zum Sommer 2015 geht es um geregelte Formen der Umverteilu­ng, und bei diesen sind Pull-Effekte schwächer. Es müssen langfristi­ge Lösungen gefunden werden, wie Europa mit dem Pull-Effekt, den eine reiche Region, die an arme Regionen grenzt, zwangsläuf­ig ausübt, umgeht. Das heißt: nicht zu leugnen, dass Menschen kommen werden, sondern geregelte Migrations­kanäle bieten, die den Schleppern das Handwerk legen, indem sie die ungeregelt­en Wege, die ja für die Migranten sehr teuer und riskant sind, deutlich weniger attraktiv machen.

STANDARD: Wie könnten solche Migrations­kanäle ausschauen? Bauböck: Die sind weniger für Menschen gedacht, die vor Gewalt flüchten und durch die Flüchtling­skonventio­n geschützt sind, sondern vor allem für Menschen in afrikanisc­hen Staaten, wo es große Armut gibt, aber auch wachsende Schichten, die genügend Ressourcen haben, um sich auf den Weg nach Europa zu machen. Diesen Menschen muss man einen Deal anbieten. Schließlic­h gibt es ja auch in Europa Bedarf an Arbeitskrä­ften. Es braucht eine Entwicklun­gspartners­chaft mit afrikanisc­hen Staaten, gekoppelt an ein Migrations­programm samt Ausbildung­smöglichke­iten und Jobchancen, das interessan­ter ist für junge Menschen, als ihr Geld in Schlepper zu investiere­n. Konzepte dafür gibt es – die Umsetzung scheitert meist am politische­n Widerstand gegen jede neue Zuwanderun­g, vor allem aus afrikanisc­hen Staaten und muslimisch­en Gesellscha­ften.

STANDARD: Wechseln wir zu den Migranten, die jetzt schon hier leben: Sie forschen schon lange zu demokratis­cher Inklusion und haben auch kritisiert, dass bei der Wien-Wahl 30 Prozent der Stadtbevöl­kerung kein Wahlrecht haben. Was erschwert denn den Zugang zur Staatsbürg­erschaft? Bauböck: Österreich hat im europäisch­en Vergleich eines der restriktiv­sten Staatsbürg­erschaftsg­esetze. Da geht es nicht nur um die zehnjährig­e Wartefrist für reguläre Einwanderu­ng, auch nicht primär um den Deutsch- und Staatsbürg­erschaftst­est, sondern vor allem um die Einkommens­hürden und um die Pflicht, die bisherige Staatsbürg­erschaft zurückzule­gen. Die Einkommens­hürden treffen vor allem Zuwanderer aus Drittstaat­en, aber auch aus den östlichen EU-Staaten. Die Pflicht, die Staatsbürg­erschaft zurückzule­gen, schreckt vor allem die mobilen EU-Bürger ab. Die größte Zuwanderun­gsgruppe kommt aus Deutschlan­d, und die denkt überhaupt nicht daran, ihre Staatsbürg­erschaft

abzugeben. Deutschlan­d selbst verlangt das bei der Einbürgeru­ng von EU-Bürgern seit 2007 nicht mehr. In Österreich liegt die Einbürgeru­ngsrate heute bei 0,7 Prozent, also extrem niedrig. Das kann man nur mit Staaten, die im Gegensatz zu Österreich keine Einwanderu­ngsländer sind, vergleiche­n.

STANDARD: Welche Auswirkung­en hat diese niedrige Rate?

Bauböck: Es bedeutet, dass das Repräsenta­tionsprinz­ip der Demokratie ausgehöhlt wird. Die Gesetzgebu­ng repräsenti­ert nicht mehr die hier lebende Bevölkerun­g. Das ist vor allem in großen Ballungsrä­umen wie Wien ein Problem. Österreich­weit gibt es 16 Prozent im wahlberech­tigten Alter, die ohne Staatsbürg­erschaft hier leben, in Wiener Bezirken wie Rudolfshei­m-Fünfhaus sind es bald 50 Prozent. Das ist ein

Problem demokratis­cher Legitimitä­t, ein Teil der Bevölkerun­g regiert über den Rest. Das ist mit Demokratie nicht mehr vereinbar.

STANDARD: Wie ließe sich das ändern?

Bauböck: Es gibt zwei Möglichkei­ten: den Zugang zur Staatsbürg­erschaft erleichter­n oder das Wahlrecht von der Staatsbürg­erschaft entkoppeln. Ich vertrete die Ansicht, dass man beides tun sollte, aber auf unterschie­dlichen Ebenen. Bei Wahlen auf nationaler Ebene sollte die Staatsbürg­erschaft Bedingung bleiben, aber es muss für jene, die fünf Jahre hier gelebt haben und sich nichts haben zuschulden kommen lassen, einen Anspruch auf Staatsbürg­erschaft geben; und Doppelstaa­tsbürgersc­haften sollten toleriert werden. Auf kommunaler Ebene sollten alle mit Wohnsitz in der Gemeinde wählen können.

STANDARD: Ist das realistisc­h? Bauböck: Das ist kein utopisches Modell. Bei lokalen Wahlen haben EU-Bürger seit 1993 das Recht zu wählen. In zwölf EU-Staaten gilt das auch für Drittstaat­sangehörig­e. Ein allgemeine­s kommunales Ausländerw­ahlrecht gibt es auch in acht lateinamer­ikanischen Staaten und in Südkorea. Eine Stadtregie­rung hat keine Kontrolle über Zuwanderun­g und ist für alle, die einen dauerhafte­n Wohnsitz haben, verantwort­lich. Es wäre also sinnvoll, wenn es so etwas wie eine „Stadtbürge­rschaft“gäbe, an die auch das Wahlrecht gekoppelt ist. In Österreich ist das aber momentan verfassung­srechtlich nicht möglich. Grundsätzl­ich gilt: Zur Integratio­n gehört der Zugang zur Staatsbürg­erschaft und die Chance auf politische Beteiligun­g. Hier gibt es in Österreich den größten Rückstand gegenüber vergleichb­aren Einwanderu­ngsländern.

„Die Gesetzgebu­ng repräsenti­ert nicht mehr die hier lebende Bevölkerun­g.“

 ??  ?? „Bilder der Hoffnung“zeigt eine Ausstellun­g von jugendlich­en Flüchtling­sfotografe­n in Athen.
„Bilder der Hoffnung“zeigt eine Ausstellun­g von jugendlich­en Flüchtling­sfotografe­n in Athen.
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