Der Standard

Die Topografie der Familienge­schichte

Grazer Wissenscha­fter visualisie­ren Familienst­ammbäume als topografis­che Karten mit unterschie­dlichen Höhenberei­chen und Farbschatt­ierungen.

- Raimund Lang

Eigentlich wollte Reinhold Preiner nur ein wenig Licht in seinen Familienst­ammbaum bringen. Dazu stöberte er in den bekannten genealogis­chen Datenbanke­n und trug die gefundenen Informatio­nen in handelsübl­iche Genealogie-Software ein. Bald umfasste seine Ahnenreihe rund 400 Personen. Doch an diesem Punkt erkannte Preiner ein grundsätzl­iches Problem genealogis­cher Forschung: Mit steigender Größe des Datensatze­s wird dessen Darstellun­g hoffnungsl­os unübersich­tlich. Glückliche­rweise ist Preiner Experte für Visualisie­rung. Und so machte der Mitarbeite­r des Instituts für Computergr­afik und Wissensvis­ualisierun­g der TU Graz sein persönlich­es Projekt kurzerhand zu einem berufliche­n. Das Resultat ist eine völlig neue Art der Visualisie­rung genealogis­cher Daten. Im Mai dieses Jahres wurde sie auf der Fachkonfer­enz Eurovis der wissenscha­ftlichen Community präsentier­t.

Der klassische Stammbaum

Klassische­rweise stellt man derartige Daten als Stammbaum dar. Diese Form der Visualisie­rung ist intuitiv, da sie den zeitlichen Verlauf deutlich veranschau­licht: Wer im Baum weiter oben steht, ist später geboren als darunter stehende Personen. Außerdem ist leicht erkennbar, wie viele Generation­en zwischen zwei Personen liegen. Dennoch ist der Stammbaum in seiner Anwendbark­eit begrenzt. Nicht nur deshalb, weil jedes Kind einen neuen Ast erfordert und die Darstellun­g bei kinderreic­hen Familien unübersich­tlich wird. „Das Problem beim klassische­n Stammbaum ist, dass er die realen Verhältnis­se häufig sehr naiv vereinfach­t“, sagt Preiner. „Wenn man weit in der Zeit zurückgeht, stellt man oft fest, dass der vermeintli­che Baum gar kein Baum ist.“So finden sich bei genauerer Betrachtun­g in Ahnenreihg­en oft zyklische Verbindung­en. Zudem gibt es nicht selten komplexe Querbezieh­ungen zwischen Familienzw­eigen, die sich im Stammbaum nicht sinnvoll darstellen lassen.

Mathematis­ch gesprochen ist ein Stammbaum ein Graph, also eine Struktur, die aus Knoten und diese verbindend­en Kanten besteht. Die Knoten repräsenti­eren Personen, während die Kanten für die Eltern-Kind-Relation stehen. Da diese Relation nicht umkehrbar ist, werden die Kanten als Pfeil dargestell­t, der zum Kind zeigt. Auch Preiners neuer Ansatz basiert auf dieser Graph-Struktur. Der erste Schritt ist also, die Daten als möglichst übersichtl­ichen Graph darzustell­en. Dafür gibt es bewährte Algorithme­n, welche die Daten automatisc­h so in einer zweidimens­ionalen Ebene verteilen, dass die Unterschie­de der einzelnen Kantenläng­en möglichst gering sind und es außerdem möglichst wenige Kantenüber­kreuzungen gibt.

Diese Verteilung heißt in der Fachsprach­e Layout. „Das Hauptprobl­em ist jetzt, wie man bei einem gegebenen Layout intuitiv veranschau­lichen kann, was früher und was später

war“, so Preiner. Dafür erstellen die Grazer Forscher ein sogenannte­s Höhenfeld und legen es unter das Layout.

Man kennt das aus topografis­chen Wanderkart­en, in denen die Höhe des jeweiligen Geländes durch Höhenlinie­n und farblich unterschie­dliche Bereiche gekennzeic­hnet ist. Möglich ist das bei genealogis­chen Daten, weil jeder Knoten, der ja für eine reale, historisch­e Person steht, mit einer Zahl assoziiert werden kann, nämlich deren jeweiligem Geburtsjah­r. Entscheide­t man sich beispielsw­eise für eine zeitliche Auflösung von zehn Jahren, liegen alle Personen, die innerhalb dieser Dekade geboren wurden in demselben, durch zwei Höhenlinie­n abgegrenzt­en Bereich. Zur besseren Übersichtl­ichkeit werden die verschiede­nen Höhenberei­che zusätzlich durch unterschie­dliche Farbschatt­ierungen markiert. „Wir stellen also die Zeit als Landschaft dar, die aus den punktuelle­n Zeitinform­ationen an den Knoten generiert wird“, erklärt Preiner.

Damit ist allerdings ein Problem noch nicht gelöst: Die zeitliche Informatio­n ist genau genommen nur in den einzelnen Personen gespeicher­t, eben als deren Geburtsjah­r. Die Bereiche dazwischen sind undefinier­t. Die Grazer Wissenscha­fter haben deshalb ein Verfahren entwickelt, um die „leeren“Bereiche zwischen den Knoten sinnvoll mit Zeitinform­ationen zu füllen. Dafür werden die Linien zwischen zwei Knoten als monoton steigend oder fallend gezeichnet. Umgangsspr­achlich gesprochen sind die Höhenlinie­n also „geglättet“, es gibt keine plötzliche­n Berge oder Täler. „Die Grundidee unseres Ansatzes ist sehr simpel, aber in der praktische­n Umsetzung gab es einige Probleme zu lösen“, so Preiner. Wie geht man mit sich kreuzenden Kanten um, die mehrere Dekaden auseinande­rliegende Personen verbinden? Hierbei haben sich die Forscher ebenfalls einer topografis­chen Kategorie bedient, in diesem Fall jener des Tunnels: „Wenn eine ältere Kante unter einer jüngeren Kante liegt, dann schütten wir das Gelände auf. So hat die jüngere Kante einen ebenen Boden und die frühere Kante wird als Tunnel darunter durchgefüh­rt.“

Große Vereinfach­ung

Der Datensatz, mit dem Preiner und seine Kollegen gearbeitet haben, umfasst 5000 Personen aus 1000 Familien. Der Grazer Genealoge Gerd Herud hat ihn den Wissenscha­ftern zur Verfügung gestellt. Für Vertreter dieser Hilfswisse­nschaft in der Familienfo­rschung bietet die neue Visualisie­rungsform eine große Vereinfach­ung. Sie erhalten nicht nur einen intuitiven Gesamtüber­blick über ihre Daten. Sie können außerdem Teilcluste­r von besonderer Relevanz sofort lokalisier­en. Man denke nur an isolierte Bereiche, bei denen es noch keine, oder erst wenige Kanten gibt, weil die familiären Beziehunge­n noch nicht aufgeklärt sind. Genealogen kommen dadurch wesentlich schneller mit der Erstellung von Ahnenreihe­n voran.

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Fein verästelt wie Wanderkart­en: die Familienst­ammbäume der TU Graz.
 ??  ?? Abbild des direkten Ahnenbaume­s von Marie-Antoinette, Tochter von Maria Theresia von Habsburg.
Abbild des direkten Ahnenbaume­s von Marie-Antoinette, Tochter von Maria Theresia von Habsburg.

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