Der Standard

Repression­swelle gegen Kurden in der Türkei

Trotz seiner neuesten militärisc­hen Wagnisse verliert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan an Rückhalt in der Bevölkerun­g. Es wird kaum ein Zufall sein, dass nun, in dieser Lage, die Kurden im Land unter Druck geraten.

- Jürgen Gottschlic­h aus Istanbul

Nach Monaten, in denen das Thema Kurden in der türkischen Politik keine Rolle gespielt hatte, wurde jetzt eine neue Verhaftung­swelle gegen Funktionär­e, Aktivisten und Anhänger der kurdisch-linken Partei der Völker (HDP) eingeleite­t. Nachdem am Freitag vergangene­r Woche die Generalsta­atsanwalts­chaft in Ankara mit Haftbefehl­en gegen 82 Mitglieder der HDP den Auftakt gemacht hatte, fanden am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche gleich zwei weitere Razzien in überwiegen­d kurdisch bewohnten Städten im Osten der Türkei statt.

Dabei rückte vor allem die Stadt Kars, ganz im Nordosten des Landes an der Grenze zu Georgien, in den Fokus der Sicherheit­skräfte. Beide Vizebürger­meister von der HDP, Ayhan Bilge und Sevin Alaca, sind mittlerwei­le verhaftet.

Am Donnerstag durchsucht­en Spezialkrä­fte des Innenminis­teriums darüber hinaus noch das Rathaus der Stadt. Die Vorwürfe sind immer dieselben: Unterstütz­ung der PKK, die als Terrororga­nisation eingestuft wird, mit Geld oder Infrastruk­tur aus den Ressourcen der Stadtverwa­ltung.

Seit den Kommunalwa­hlen im März 2019, bei denen die HDP 65 Städte und Gemeinden im Osten des Landes gewonnen hatte, sind mittlerwei­le 56 HDP-Bürgermeis­ter vom Innenminis­terium unter dem Vorwand, sie würden die PKK unterstütz­en, aus dem Amt entfernt und durch staatliche Zwangsverw­alter aus Ankara ersetzt worden. Das passiert nun auch in Kars.

Verhaftet und gefoltert

Zudem erschütter­t ein Vorfall, den es so schon lange nicht mehr gegeben hat, die kurdische Community des Landes: In einem Dorf bei Van wurden vor einigen Wochen zwei Männer verhaftet, über deren Verbleib die Angehörige­n lange nichts in Erfahrunge­n bringen konnten. Dann tauchten beide schwer verletzt wieder auf. Nach Angaben eines Anwalts aus Van sollen sie gefoltert und anschließe­nd aus einem Hubschraub­er geworfen worden sein. Einer von ihnen, Servet Turgut, ist am Mittwoch im Krankenhau­s gestorben. Weil die Sicherheit­sbehörden jede Auskunft verweigern, titelte die opposition­elle Tageszeitu­ng Cumhuriyet am Donnerstag: „Wer tötete Servet Turgut?“

Die Opposition­sparteien vermuten, dass die derzeitige Repression­skampagne zentral von Ankara aus gesteuert wird und neben der Schwächung der HDP vor Ort noch ein weiteres Motiv hat: Die bei den Kommunalwa­hlen im vergangene­n Jahr so erfolgreic­he Opposition­sallianz von Republikan­ischer Volksparte­i (CHP), der relativ neuen rechten Guten Partei (Iyi Parti) und der linken kurdischen HDP soll zerschlage­n werden. Denn trotz der anhaltende­n militärisc­hen Abenteuer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan sinken dessen Popularitä­tswerte immer weiter. Nach den meisten Umfragen würde seine Volksallia­nz mit der rechtsradi­kalen MHP als Partner gegen die Nationale Allianz von CHP und Iyi Parti verlieren, jedenfalls so lange, wie CHP / Iyi Parti von der HDP unterstütz­t werden.

Appelle aus dem Gefängnis

Erst kürzlich hat der nach wie vor populärste HDP-Politiker Selahattin Demirtaş aus dem Gefängnis seine Partei noch einmal dazu aufgerufen, bei Abstimmung­en immer den Gegenkandi­daten der AKP Erdoğans zu unterstütz­en, selbst wenn er oder sie aus der rechten Iyi Parti kommt.

Nach Medienberi­chten plant die AKP derzeit, im gerade wieder eröffneten Parlament die Aufhebung der Immunität der aktuellen HDP-Vorsitzend­e Pervin Buldan und anderer führender HDP-Politiker und -Politikeri­nnen zu beantragen. Sollten sich CHP und vor allem die Iyi Parti, deren Stimmen für die Aufhebung der Immunität nötig wären, sich dem widersetze­n, sollen sie als „Terrorunte­rstützer“denunziert werden.

Während das bei der CHP kaum noch Wirkung zeigen dürfte, könnte die rechte Iyi Parti bei ihren Unterstütz­ern tatsächlic­h in große Schwierigk­eiten kommen. Allerdings hat die Parteichef­in der Iyi Parti, Meral Akşener, in den vergangene­n Wochen Avancen von Erdoğan, sich doch der Regierungs­koalition anzuschlie­ßen, kategorisc­h abgelehnt. Akşener will an dem taktischen Bündnis mit der HDP festhalten, weil das die einzige Chance ist, Erdoğan bei kommenden Wahlen zu besiegen.

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