Der Standard

Ein aus saudischer Sicht abgeschlos­sener Justizfall

Heute vor zwei Jahren wurde in Istanbul der saudische Dissident Jamal Khashoggi ermordet. Der Prozess gegen die Täter ist beendet, aber der Fall belastet den mächtigen Kronprinze­n Mohammed bin Salman weiter.

- ANALYSE: Gudrun Harrer

Am 2. Oktober vor zwei Jahren betrat der saudische Publizist Jamal Khashoggi das Generalkon­sulat seines Landes in Istanbul: Überwachun­gsaufnahme­n des Eingangs zeigen die letzten Bilder des damals noch knapp 59-Jährigen, der seine türkische Verlobte Hatice Cengiz heiraten und deshalb vom Konsulat seine Scheidungs­papiere abholen wollte.

Khashoggi verließ das Gebäude nicht lebend. Im Nachhinein erstaunte, dass die – wie man meinen möchte – mit allen Wassern gewaschene­n Saudis nicht in Betracht gezogen hatten, dass der türkische Geheimdien­st das Konsulat verwanzt haben könnte. Genau das war der Fall, und so belegen Tonbänder den Mord und die Mutilation der Leiche Khashoggis durch ein saudisches Mordkomman­do.

Es blieb den Saudis also nichts übrig, als sich damit auseinande­rzusetzen. Der 35-jährige Kronprinz Mohammed bin Salman Al Saud übernahm in einem Interview nach längerer Zeit vage die politische Verantwort­ung. Von westlichen Geheimdien­sten wurde er hingegen als Auftraggeb­er benannt.

Der Justizfall Khashoggi ist jedoch aus saudischer Sicht seit dem 7. September abgeschlos­sen: Da wandelte ein Gericht fünf zuvor erlassene Todesurtei­le in 20-jährige Haftstrafe­n um, mehrere Personen wurden zu kürzeren Gefängniss­trafen verurteilt. Die Familie Khashoggis – seine erwachsene­n Kinder aus erster Ehe – hatten zuvor auf die Hinrichtun­g der Täter verzichtet. Das war genau so erwartet worden.

Khashoggis Vermächtni­s

In Washington wurde diese Woche ein Projekt vorgestell­t, an dem Khashoggi laut Organisato­ren in der Zeit vor seiner Ermordung gearbeitet hatte: eine Menschenre­chtsorgani­sation plus Thinktank namens Dawn – Democracy for the Arab World –, der sich vor allem auf das Thema Inhaftieru­ngen und Prozesse konzentrie­ren soll, und zwar in Saudi-Arabien, den Vereinigte­n Arabischen Emiraten und Ägypten.

Das macht jeden Nahost-Habitué etwas misstrauis­ch: ohne Dawn etwas unterstell­en zu wollen: Für die Glaubwürdi­gkeit wäre es besser, wenn auch Katar oder die Türkei (ja, kein arabisches Land) unter die Lupe genommen würden. Die überaus gut dotierte Propaganda­indusimmer trie beider Seiten – Saudis und Konsorten auf einer Seite, Katar und Türkei auf der anderen – ist längst auch in den akademisch­en Bereich vorgedrung­en und versucht, ihre jeweiligen Botschafte­n durchzubri­ngen (etwa dass Khashoggi eigentlich ein gefährlich­er Muslimbrud­er war). Auch in Österreich würde es nicht schaden, davon Notiz zu nehmen.

Für Mohammed bin Salman, meist MbS genannt, hat sich in den vergangene­n zwei Jahren einiges geändert. Trotz seiner brutalen Methoden, die sich schon 2017 abzeichnet­en, war zuvor seine Rolle als junger Reformer im Vordergrun­d gestanden, dem – und das gilt noch – die Herzen vieler jungen Saudis zufliegen. Seit Khashoggis Ermordung war MbS nicht mehr in den USA und in Europa, zumindest offiziell nicht. Wenn sein Freund Jared Kushner, Schwiegers­ohn von US-Präsident Donald Trump und dessen Nahost-Beauftragt­er, ihn sehen will, muss er nach Saudi-Arabien kommen.

Der G20-Vorsitz

Derzeit hat Saudi-Arabien den G20-Vorsitz inne. Covid-19, das auch das Königreich schwer getroffen hat, ist immerhin insofern hilfreich, als der große Gipfel der Gruppe der zwanzig wichtigste­n Industrie- und Schwellenl­änder im November nur virtuell stattfinde­n wird. Da mag die Hemmschwel­le teilzunehm­en niedriger sein. Von Diplomaten kann man immer öfter hören, dass man sich mit dem, was geschehen ist, wohl abfinden müsse: Auch mit Wladimir Putin verkehren die westlichen Staaten ja weiter, Stichwort Nawalny.

Die Situation für Dissidente­n und Dissidenti­nnen in Saudi-Arabien hat sich indes nicht verbessert – die Gefängniss­e sind voll –, und auch innerhalb seiner Familie kennt MbS, wenn er es für richtig erachtet, kein Pardon: General Fahd bin Turki, der Kommandant der saudischen Militärkoa­lition im Jemen, und dessen Sohn Abdulaziz, Vizegouver­neur von Jouf, sind die bisher letzten Prinzen, die Anfang September wegen Korruption verhaftet wurden.

Auch im Ausland beklagen opposition­elle saudische Exilanten weiter Druck ausgesetzt zu sein. Vor kurzem erregte der Fall von Saad alJabri Aufsehen, der behauptete, die Saudis hätten versucht, ihn umzubringe­n. Khashoggi und Jabri sind insofern ähnliche Fälle, als beide eigentlich aus dem saudischen Establishm­ent kamen, jahrelang in saudische Strukturen eingebunde­n waren und erst unter MbS nicht mehr mitmachen wollten.

Im Weißen Haus schadet das alles MbS nicht: Dort nimmt man zwar zur Kenntnis, dass es, solange MbS’ Vater König Salman lebt, eher keine Normalisie­rung mit Israel geben wird. Aber MbS soll das diesbezügl­iche Coming-out anderer Staaten fördern, und angeblich hat er auch Druck auf den Libanon ausgeübt, in Verhandlun­gen mit Israel über die Demarkatio­n der Seegrenze im Mittelmeer einzutrete­n.

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Ein Jahr nach seinem Tod wurde am 2. Oktober 2019 in Istanbul Jamal Khashoggis gedacht.

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