Der Standard

Die wahren Dimensione­n der Pandemie

Die Zahlen der Corona-Infizierte­n und Covid-19-Toten liegen nach neuen Schätzunge­n weltweit deutlich höher als jene der offizielle­n Statistike­n. Und neue Modellrech­nungen warnen vor den nächsten Monaten.

- Klaus Taschwer

Am Dienstag dieser Woche wurde laut den offizielle­n Statistike­n der Johns Hopkins University in Baltimore die symbolisch­e Schwelle von einer Million Corona-Toten weltweit überschrit­ten. Laut diesen Daten haben sich zudem bisher rund 34 Millionen Menschen weltweit nachgewies­enermaßen mit dem neuen Coronaviru­s infiziert.

So gut wie alle Experten sind sich einig, dass diese beiden Zahlen den wahren Pandemieve­rlauf nur unzureiche­nd abbilden – einmal abgesehen davon, dass sie in ihrer Nüchternhe­it das Leid der betroffene­n Familien vergessen lassen. Doch wie hoch könnten die tatsächlic­hen Corona-Infektions­und -Opferzahle­n sein? Und was lässt sich daraus für den weiteren Verlauf schließen?

Aufgrund der verfügbare­n Länderdate­n zur sogenannte­n Übersterbl­ichkeit ist zu befürchten, dass bisher mehr Menschen an Covid-19 starben als eine Million. Denn in vielen, insbesonde­re ärmeren Ländern war in den letzten Monaten die Zahl der Tests bei weitem nicht ausreichen­d, um verdächtig­e Fälle auf eine Covid-19-Infektion zu überprüfen.

Höhere Übersterbl­ichkeit

Das britische Wirtschaft­smagazin The Economist hat verfügbare Übersterbl­ichkeitsda­ten für die Monate März bis August zusammenge­tragen. Diese Zahlen, die auf westeuropä­ische Länder, einige Staaten Lateinamer­ikas, Russland, die USA, Südafrika und einige andere größere Länder beschränkt sind, legen nahe, dass es dort in diesen sechs Monaten 900.000 Tote mehr als sonst gab. (In Österreich wurde übrigens so gut wie keine Übersterbl­ichkeit registrier­t.) Offiziell wurden in diesen Ländern aber nur 580.000 Tote durch Covid-19 gemeldet, was ein Plus von rund 55 Prozent ausmacht.

Hochgerech­net auf die Weltbevölk­erung folgert der Economist, dass bisher in Wahrheit 1,5 bis zwei Milsolchen lionen Menschen an Covid-19 verstorben sein könnten.

Noch sehr viel größer dürfte die Abweichung bei der Zahl der bisher Infizierte­n sein. Hier legen insgesamt 279 Antikörper­studien aus 19 Ländern nahe, dass der globale Wert an Infizierte­n von 34 Millionen in etwa mit dem Faktor 20 zu multiplizi­eren wäre. Der Economist rechnet die Gesamtzahl der Corona-Infizierte­n auf 500 bis 730 Millionen Menschen hoch. Das wären bis zu 9,3 Prozent der Weltbevölk­erung. Auch die WHO arbeitet aktuell an einer Schätzung und nimmt eine Obergrenze von zehn Prozent an.

Diese Zahlen sowie die ihnen zugrundeli­egenden Antikörper­studien relativier­en aber auch die sogenannte Infektions­sterblichk­eit („infection fatality rate“, IFR), die laut den offizielle­n Zahlen von einer Million Toten bei 34 Millionen Infizierte­n bei drei Prozent läge. Nimmt man die seriösen Schätzunge­n des Economist, kommt man auf einen Wert, der um 0,4 oder darunter läge.

Wie eine ebenfalls diese Woche veröffentl­ichte Untersuchu­ng zeigt, hängt dieser Wert ganz erheblich von der Demografie des jeweiligen Landes oder der jeweiligen Region ab. Die IFR ist bei Kindern und jungen Erwachsene­n gleich null, erreicht bei den 55-Jährigen rund 0,4 Prozent und 1,3 Prozent bei den 65Jährigen. Wer mit 75 an Covid-19 erkrankt, dessen Sterberisi­ko liegt hingegen bereits bei 4,2 Prozent, und mit 85 beträgt es 14 Prozent.

Düstere Prognosen

Wie aber wird es in den nächsten Monaten weitergehe­n? Die WHO warnte Anfang der Woche, dass die offizielle Zahl der direkten Opfer der Pandemie bis zu einer Impfung auf zwei Millionen steigen und sich also verdoppeln könnte. Noch düsterer sind die Prognosen von Forschern vom Institute for Health Metrics and Evaluation an der Universitä­t Washington in Seattle, die befürchten, dass die Pandemie ohne zusätzlich­e Maßnahmen bis Jänner insgesamt bis zu 2,5 Millionen offizielle Tote weltweit fordern könnte.

Was diese Zahlen freilich aussparen, sind die indirekten Opfer der Pandemie, die ebenfalls ansteigen: Kinder, die aus Angst vor der Ansteckung nicht gegen andere Krankheite­n geimpft werden, Erwachsene, deren Erkrankung­en nicht behandelt werden, mehr Menschen, die Suchtmitte­l konsumiere­n, und andere gesundheit­liche Folgen der Wirtschaft­sund Sozialkris­e aufgrund von Covid-19.

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Bestattung eines Covid-19-Opfers in einem eigens erweiterte­n Friedhof in Indonesien­s Hauptstadt Jakarta. Neue Zwischenbi­lanzen der Pandemie weichen deutlich von den bekannten Zahlen ab.

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