Die wahren Dimensionen der Pandemie
Die Zahlen der Corona-Infizierten und Covid-19-Toten liegen nach neuen Schätzungen weltweit deutlich höher als jene der offiziellen Statistiken. Und neue Modellrechnungen warnen vor den nächsten Monaten.
Am Dienstag dieser Woche wurde laut den offiziellen Statistiken der Johns Hopkins University in Baltimore die symbolische Schwelle von einer Million Corona-Toten weltweit überschritten. Laut diesen Daten haben sich zudem bisher rund 34 Millionen Menschen weltweit nachgewiesenermaßen mit dem neuen Coronavirus infiziert.
So gut wie alle Experten sind sich einig, dass diese beiden Zahlen den wahren Pandemieverlauf nur unzureichend abbilden – einmal abgesehen davon, dass sie in ihrer Nüchternheit das Leid der betroffenen Familien vergessen lassen. Doch wie hoch könnten die tatsächlichen Corona-Infektionsund -Opferzahlen sein? Und was lässt sich daraus für den weiteren Verlauf schließen?
Aufgrund der verfügbaren Länderdaten zur sogenannten Übersterblichkeit ist zu befürchten, dass bisher mehr Menschen an Covid-19 starben als eine Million. Denn in vielen, insbesondere ärmeren Ländern war in den letzten Monaten die Zahl der Tests bei weitem nicht ausreichend, um verdächtige Fälle auf eine Covid-19-Infektion zu überprüfen.
Höhere Übersterblichkeit
Das britische Wirtschaftsmagazin The Economist hat verfügbare Übersterblichkeitsdaten für die Monate März bis August zusammengetragen. Diese Zahlen, die auf westeuropäische Länder, einige Staaten Lateinamerikas, Russland, die USA, Südafrika und einige andere größere Länder beschränkt sind, legen nahe, dass es dort in diesen sechs Monaten 900.000 Tote mehr als sonst gab. (In Österreich wurde übrigens so gut wie keine Übersterblichkeit registriert.) Offiziell wurden in diesen Ländern aber nur 580.000 Tote durch Covid-19 gemeldet, was ein Plus von rund 55 Prozent ausmacht.
Hochgerechnet auf die Weltbevölkerung folgert der Economist, dass bisher in Wahrheit 1,5 bis zwei Milsolchen lionen Menschen an Covid-19 verstorben sein könnten.
Noch sehr viel größer dürfte die Abweichung bei der Zahl der bisher Infizierten sein. Hier legen insgesamt 279 Antikörperstudien aus 19 Ländern nahe, dass der globale Wert an Infizierten von 34 Millionen in etwa mit dem Faktor 20 zu multiplizieren wäre. Der Economist rechnet die Gesamtzahl der Corona-Infizierten auf 500 bis 730 Millionen Menschen hoch. Das wären bis zu 9,3 Prozent der Weltbevölkerung. Auch die WHO arbeitet aktuell an einer Schätzung und nimmt eine Obergrenze von zehn Prozent an.
Diese Zahlen sowie die ihnen zugrundeliegenden Antikörperstudien relativieren aber auch die sogenannte Infektionssterblichkeit („infection fatality rate“, IFR), die laut den offiziellen Zahlen von einer Million Toten bei 34 Millionen Infizierten bei drei Prozent läge. Nimmt man die seriösen Schätzungen des Economist, kommt man auf einen Wert, der um 0,4 oder darunter läge.
Wie eine ebenfalls diese Woche veröffentlichte Untersuchung zeigt, hängt dieser Wert ganz erheblich von der Demografie des jeweiligen Landes oder der jeweiligen Region ab. Die IFR ist bei Kindern und jungen Erwachsenen gleich null, erreicht bei den 55-Jährigen rund 0,4 Prozent und 1,3 Prozent bei den 65Jährigen. Wer mit 75 an Covid-19 erkrankt, dessen Sterberisiko liegt hingegen bereits bei 4,2 Prozent, und mit 85 beträgt es 14 Prozent.
Düstere Prognosen
Wie aber wird es in den nächsten Monaten weitergehen? Die WHO warnte Anfang der Woche, dass die offizielle Zahl der direkten Opfer der Pandemie bis zu einer Impfung auf zwei Millionen steigen und sich also verdoppeln könnte. Noch düsterer sind die Prognosen von Forschern vom Institute for Health Metrics and Evaluation an der Universität Washington in Seattle, die befürchten, dass die Pandemie ohne zusätzliche Maßnahmen bis Jänner insgesamt bis zu 2,5 Millionen offizielle Tote weltweit fordern könnte.
Was diese Zahlen freilich aussparen, sind die indirekten Opfer der Pandemie, die ebenfalls ansteigen: Kinder, die aus Angst vor der Ansteckung nicht gegen andere Krankheiten geimpft werden, Erwachsene, deren Erkrankungen nicht behandelt werden, mehr Menschen, die Suchtmittel konsumieren, und andere gesundheitliche Folgen der Wirtschaftsund Sozialkrise aufgrund von Covid-19.