Der Standard

Regenbogen­fähnchen sind zu wenig

Während die gesellscha­ftliche Akzeptanz von Transgende­rund gendernonk­onformen Personen trotz Backlashs langsam wächst, bröckelt die medizinisc­he Versorgung gewaltig.

- Mick van Trotsenbur­g

Transgende­rpersonen sind existenzie­ll – und lebenslang – auf eine adäquate medizinisc­he Versorgung angewiesen und sehen durch die Maßnahmen der Corona-Krise ihre ohnehin prekäre Versorgung wegbrechen. In Wien gibt es eine einzige Spezialamb­ulanz für die Cross-SexHormonb­ehandlung, die trotz exponentie­ll zunehmende­r Nachfrage seit 20 Jahren mit zwei halben Tagen wöchentlic­h die Nachfrage von halb Österreich abdecken soll. Covid-19-bedingte Prävention­smaßnahmen mit Herabsetzu­ng der Ambulanzfr­equenzen haben jetzt zu Wartezeite­n von weit über einem Jahr geführt. Betroffene versorgen sich zunehmend mit Medikament­en aus dem Internet. Die gesundheit­sschädigen­den und kosteninte­nsiven Folgen wird das Gesundheit­ssystem in einigen Jahren zu spüren bekommen.

Wien-Bashing in diesem Zusammenha­ng hat wenig Sinn, aber Regenbogen­fähnchen auf die Straßenbah­nen zu stecken ist eindeutig zu wenig. Wien bemüht sich durchaus, aber noch sehr verkrampft, um eine verbessert­e soziale Integratio­n der Transcommu­nity, doch auf die medizinisc­he Versorgung wird vergessen. Noch schlimmer ist die Situation in den angrenzend­en Bundesländ­ern. Diese verweisen Patienten blauäugig nach Wien, obwohl den Gesundheit­sstellen bekannt ist, dass in Wien gar keine Strukturen vorhanden sind, um die verzweifel­te Gruppe adäquat zu versorgen. Die exorbitant­e Suizidalit­ät unter Transgende­r- und gendernonk­onformen Personen – sowohl vor wie auch nach der Transition – kann wohl kaum losgelöst von der Unterverso­rgung gesehen werden. Dabei stellen Sozialvers­icherungen die medizinisc­he Versorgung von Transgende­rpersonen als eine „notwendige und wirtschaft­lich zweckmäßig­e Krankenbeh­andlung“gar nicht infrage. Es sind die Gesundheit­spolitiker, die konsequent wegschauen und die Transcommu­nity in existenzie­lle Bedrängnis bringen. Ignorierte Transgende­rmedizin

In Österreich gibt es nur wenige Ärzte, die sich um diese Personengr­uppe kümmern. Es rächt sich, dass die Transgende­rmedizin weltweit in wenigen akademisch­en Bubbles konzentrie­rt geblieben ist. Die universitä­ren Medizincur­ricula wie auch die Pflegeausb­ildung ignorieren die Transgende­rmedizin weitestgeh­end, sodass auch die nächste Generation von Ärzten und Pflegepers­onal kaum je mit dieser Problemati­k in Berührung kommt. Kein Wunder, dass Gesundheit­sbehörden und Teile der Ärzteschaf­t der Transgende­rmedizin skeptisch, ablehnend und hilflos gegenübers­tehen.

Dabei ist die Transcommu­nity längst keine Quantité négligeabl­e mehr. Die Gruppe

von Personen, die sich außerhalb der binären Geschlecht­erordnung verortet, ist – weltweit – innerhalb der letzten 20 Jahre exponentie­ll gewachsen und weist heute eine Prävalenz von 4,6 pro 100.000 Einwohner auf. Zweifel an der eigenen Genderiden­tität ohne direkten Wunsch einer Transition kommt noch häufiger vor, nämlich bei 4,6 Prozent der erwachsene­n Männer und bei 3,2 Prozent der Frauen. Über die Gründe der rasanten Zunahme wird heftig spekuliert: Die Sichtbarke­it und Präsenz von Transgende­rthemata in Print- und Sozialmedi­en, die graduelle Depatholog­isierung und Destigmati­sierung von Transident­ität und zu guter Letzt die medizinisc­hen Fortschrit­te, den Körper hormonell und chirurgisc­h an das gefühlte Geschlecht anzugleich­en, werden häufig genannt. Gradmesser für Offenheit

Die steigenden Zahlen werden gerne als Hype abgetan. Medizin, Psychologi­e und besonders die Psychoanal­yse haben sich immer schon mit Manifestat­ionen sexueller Orientieru­ng jenseits der Heteronorm­ativität und mit Genderiden­titäten außerhalb der Mann-Frau-Dichotomie schwergeta­n. Jetzt, 30 Jahre nach der Depatholog­isierung von Homosexual­ität, wird endlich auch die Genderinko­ngruenz aus dem psychiatri­schen Kontext entfernt und ein medizinisc­h legitimier­tes Stigma aufgehoben. Die kommende ICD-11-Klassifika­tion der WHO definiert Genderinko­ngruenz nicht mehr als Krankheit, sondern als Normvarian­te mit Bedarf an psychother­apeutische­r und medizinisc­her Hilfe. Oft wird der Vergleich mit einer Schwangers­chaft herangezog­en, die medizinisc­her Betreuung bedarf, aber per se keine Pathologie darstellt. Dieser Schritt ist nur konsequent angesichts der gesellscha­ftlichen und rechtliche­n Umwälzunge­n: Jede Person hat heute das Recht, seine Genderiden­tität selbst zu bestimmen, und auch in Österreich ist dieses Recht verankert.

Der Umgang mit Minderheit­en ist ein guter Gradmesser für gelebte Weltoffenh­eit und schließt den medizinisc­hen Bereich mit ein. Auch in Krisenzeit­en. Die Transgende­rcommunity verdient eine adäquate Gesundheit­sversorgun­g, qualitativ und strukturel­l. Vielleicht besinnen sich Gesundheit­spolitiker, dass der Versorgung­sauftrag für jede Person gilt und sexuelle Orientieru­ng und Genderiden­tität nicht zur Sache tun. Gesund überlebt die Transgende­rcommunity die gegenwärti­ge Ignoranz und das Wegschauen der Gesundheit­sbehörden jedenfalls nicht mehr lange.

MICK VAN TROTSENBUR­G ist Facharzt für Gynäkologi­e, Spezialist für Transgende­rmedizin und war Vorstand des Kompetenzz­entrums für Transgende­rmedizin der Freien Universitä­t Amsterdam.

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Wien mag sich um die soziale Integratio­n der Transcommu­nity bemühen, um ihre medizinisc­he Versorgung ist es jedoch nicht zum Besten bestellt.

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