Der Standard

Der Marathon, der den Schuh revolution­ierte

Vor einem Jahr bewältigte Kenias Laufstar Eliud Kipchoge im Wiener Prater die Marathondi­stanz in knapp zwei Stunden. Auch eine Revolution in der Entwicklun­g von Laufschuhe­n lag der Tat zugrunde. Sie dauert an.

- Fritz Neumann

Am 12. Oktober 2019 haben Eliud Kipchoge, Wolfgang Konrad und Jim Ratcliffe die Sportwelt gespalten. Kipchoge legte auf der Hauptallee im Wiener Prater die Marathondi­stanz in einer Stunde, 59 Minuten und vierzig Sekunden zurück, bewältigte die 42,195 Kilometer somit als erster Mensch per pedes in weniger als zwei Stunden. Ratcliffe, der Chef des britischen Chemie-Konzerns Ineos, hatte das Unternehme­n finanziert. Und Konrad, der Veranstalt­er des Vienna City Marathons, hatte für die Bühne gesorgt.

Der Aufwand war gigantisch, die Hauptallee war teilweise frisch asphaltier­t worden, beim Lusthaus wurde eine temporäre Steilkurve hingelegt. Und im Rennen rotierten 41 Pacemaker, viele von ihnen Superstars der Laufszene, quasi permanent. Das Budget, das Ineos lockermach­te, blieb geheim. Man konnte von einem relativ hohen zweistelli­gen Millionenb­etrag ausgehen, 2017 hatte Nike in einen ähnlichen und letztlich knapp gescheiter­ten Versuch in Monza dreißig Millionen Euro investiert.

Keine Mondlandun­g

Klar ist, dass das Ineos-Kalkül, „Sportswash­ing“quasi neu zu definieren, voll aufgegange­n ist. Imagepolit­ur also durch Investment in aufsehener­regende Sportevent­s. Imagepolit­ur konnte und kann dem Brexit- und Fracking-Befürworte­r Ratcliffe nicht schaden.

Weltrekord oder nicht? Sportgesch­ichte oder nicht? Darüber wurde heftig diskutiert, nicht nur in der Laufszene, nicht nur in Wien, sondern weltweit. Dabei haben sich die beiden Fragen recht flott beantworte­n lassen. Weltrekord war es natürlich keiner, weil etliche Parameter dem Regulativ zuwiderlie­fen. Allein, dass Tempomache­r immer wieder ein- und aussteigen, verhindert eine diesbezügl­iche Anerkennun­g. Eine grandiose Leistung war es allemal, man konnte vor Kipchoge nur den Hut ziehen. Die Leistung des Kenianers mit der Mondlandun­g zu vergleiche­n hätte sich Ratcliffe wiederum sparen können.

Wolfgang Konrad sah insofern ein wenig durch die Finger, als sich Kipchoges Großtat für den Vienna City Marathon nicht versilbern ließ. Schließlic­h wurde die Auflage 2020 aus bekannten Gründen abgesagt, und der nächste Wien-Marathon soll erst im Herbst 2021 steigen. Ob Kipchoges Hauptallee-Lauf dann noch vielen in Erinnerung ist und sich damit im Vorfeld werben lässt, bleibt abzuwarten.

Was ganz gewiss vom IneosUnter­fangen blieb, ist kein Quanten-, sondern ein Riesenspru­ng im Bereich der Laufschuhe­ntwicklung. Nike hat Unsummen in den Vaporfly und in sein Nachfolgem­odell Alphafly investiert, einen Schuh mit auffallend dicker Sohle, der dennoch extrem leicht ist – er wiegt deutlich weniger als 200 Gramm. Die Konkurrenz hatte das Nachsehen, ihr blieb nur, sich beim Leichtathl­etik-Weltverban­d World Athletics (WA), der früheren IAAF, zu beschweren.

World Athletics kam nicht umhin, die neuen Modelle einer genauen Untersuchu­ng zu unterziehe­n. Ergebnis: Der maßgeschne­iderte Schuh, den Kipchoge in Wien trug, würde so nicht mehr durchgehen. Die beiden Serienmode­lle Vaporfly und Alphafly entspreche­n aber sehr wohl den neuen Regeln, die der Verband aufgestell­t hat, aufstellen musste. Diesen zufolge darf die Sohle eines Laufschuhs nicht (mehr) dicker als 40 Millimeter sein, und es darf sich maximal eine (Carbon-)Platte im Schuh befinden. Diese Platte darf zwar mehrere Teile haben, die Teile dürfen sich aber nicht überlappen. Und, das ist ein wesentlich­er Punkt: Neue Schuhe müssen vier Monate lang im Handel erhältlich sein, bevor sie von Spitzenläu­ferinnen und -läufern getragen werden dürfen.

Von einem anderen „Wunderschu­h“ebenfalls aus der Nike-Werkstatt, dem Dragonfly, wurden kürzlich Joshua Keptegei aus Uganda und die Äthiopieri­n Letesenbet Gidey zu Fabelweltr­ekorden über 10.000 bzw. 5000 Meter getragen. Dieser Schuh (mit Spikes), obwohl oder weil nur Spezialist­en zu empfehlen, ist bereits um 150 Euro erhältlich, die Marathonmo­delle kosten mehr, sie werden um 275 bis 300 Euro angeboten.

Mögliche Kontrollen

Hannes Gruber, der Sportkoord­inator des österreich­ischen Verbands (ÖLV), verweist auf eine „Liste mit zertifizie­rten Schuhen“, die auf der WA-Website einzusehen sei. „Es kann einem Sieger jetzt passieren, dass ihm sein Schuh im Ziel abgenommen und nachkontro­lliert wird. Wie auch ein Diskus oder ein Speer kontrollie­rt werden.“

Der Salzburger Peter Herzog, der kürzlich beim London-Marathon österreich­ischen Rekord (2:10:06) erzielte, war dabei mit dem Nike Alphafly unterwegs. „Der Schuh ist unser einziges Werkzeug“, sagt er. Mit den neu entwickelt­en Modellen, sagt er auch, laufe man nicht prinzipiel­l schneller, das wäre ein Aberglaube. Ihren großen Vorteil sieht er in der Dämpfung. „Sie hilft der Muskulatur, die dann hinten raus, am Ende eines Rennens, frischer ist.“Das kann helfen, dem berühmten „Mann mit dem Hammer“zu enteilen – und bestenfall­s die zweite Hälfte eines Marathons schneller zurückzule­gen als die erste.

Negativ ist positiv

Dieses oft versuchte, aber selten gelungene Kunststück hat Herzog in London vollbracht. Man spricht von einem Negativ-Split, der durchaus positiv ist. Übrigens hatte am 12. Oktober 2019 in Wien auch Eliud Kipchoge die zweite Halbmarath­ondistanz (59:46) schneller absolviert als die erste (59:54). Die Bezeichnun­g Negativ-Split allerdings hatte vor einem Jahr so oder so noch einen seltsamere­n Klang als heute, da positive Ergebnisse prinzipiel­l oft als negativ und negative als positiv wahrgenomm­en werden.

 ??  ??
 ??  ?? Kipchoges Marke in Wien zählte nicht als Weltrekord. Den (2:01:39) hat er 2018 in Berlin fixiert.
Kipchoges Marke in Wien zählte nicht als Weltrekord. Den (2:01:39) hat er 2018 in Berlin fixiert.

Newspapers in German

Newspapers from Austria