Der Standard

Nicht nur Corona hielt Wähler ab

In Wien avancierte­n die Nichtwähle­r zur größten Gruppe. Die Pandemie sei daran nur sehr eingeschrä­nkt schuld, sagt Experte Hofinger: SPÖ und FPÖ hätten sich den Exodus zu einem Gutteil selbst zuzuschrei­ben.

- Gerald John

Sie sind, wenn man so will, die stärkste Partei der Stadt: Über 400.000 wahlberech­tigte Wiener verzichtet­en am Sonntag darauf, ihre Stimme abzugeben. Die Gruppe der Nichtwähle­r überflügel­te damit erstmals auch die SPÖ, die als Siegerin laut Hochrechnu­ng des Sora-Instituts auf etwa 300.000 Stimmen kam (siehe Grafik).

Die Wahlbeteil­igung dürfte somit von 74,7 auf unter 65 Prozent gefallen sein.

Reflexarti­g drängt sich da eine Erklärung auf: Die Corona-Pandemie habe wohl gerade viele ältere Bürger abgehalten, sich im Wahllokal anzustelle­n. Doch stimmt diese These? Christoph Hofinger winkt ab. Der Sora-Meinungsfo­rscher sieht schwerwieg­endere Ursachen als das grassieren­de Virus: „Corona war vielleicht das Tüpfelchen auf dem i.“

Ein genauer Blick auf das Ergebnis zeigt, dass sich die Neo-Nichtwähle­r nach Herkunft höchst ungleich auf die verschiede­nen Lager verteilen. Während die mit einer bürgerlich­en Wählerscha­ft ausgestatt­eten Parteien ÖVP, Grüne und Neos nur einen vernachläs­sigbaren Anteil auf diese Weise einbüßten, übten sich rote und blaue Wähler von 2015 am Sonntag

in massenhaft­em Verzicht. Die SPÖ verlor 73.000 Stimmen, die FPÖ gleich 101.000.

In letzterem Fall liegen die Gründe auf der Hand. Mit Ibiza-Skandal und Spesenaffä­re haben sich die Freiheitli­chen auch bei Anhängern unmöglich gemacht. Für viele davon waren die roten und türkisen Alternativ­en offenbar nicht verlockend genug.

Zu wenige Genossen hervorgeho­lt

Die Wiener SPÖ ist weder mit Skandalen noch mit Selbstzerf­leischung aufgefalle­n. Doch anders als 2015, als das beschworen­e Duell um Platz eins mit der FPÖ „noch den letzten Genossen hinter dem Ofen hervorgeho­lt hat“, fehlte diesmal der taktische Mobilisier­ungsschub, sagt Hofinger im STANDARD-Gespräch. Auch inhaltlich habe der rote „Wohlfühlwa­hlkampf wenig geliefert, was Emotionen schüre – ganz anders als Hans Peter Doskozil, dem dies im Burgenland mit der Pflegefrag­e gelungen sei. Michael Ludwig habe sich Profil erarbeitet, keine Fehler gemacht und ein solides Ergebnis abgeholt, bilanziert der Demoskop: „Letztlich ist die Wiener SPÖ aber unter ihren Möglichkei­ten geblieben.“

Noch ein Faktor, der den Exodus aus dem roten und blauen Lager begünstigt: Generell kursiert in der Arbeitersc­haft das Gefühl, dass Politik und Gesetze stärker die Interessen der mit höherer Bildung und üppigerem Einkommen gesegneten Eliten berücksich­tigen – was ja auch nicht ganz von der Hand zu weisen sei, wie Hofinger anmerkt. Warum dann überhaupt noch wählen gehen?

Ein anderer großer Teil dieser Gruppe darf hingegen gar nicht zu den Urnen schreiten. Rund 485.000 Wienern bleibt das Wahlrecht für den Gemeindera­t versagt, weil sie keine österreich­ische Staatsbürg­erschaft besitzen. Eine Auswertung von APA und OGM vor der Wahl hat gezeigt, dass in manchen Vierteln jeder zweite Bewohner aus diesem Grund nicht wählen darf.

Andere Bürger werden im Gemeindera­t nicht repräsenti­ert, obwohl sie ins Wahllokal gepilgert sind. Zehntausen­de Wiener – bei allen Zahlen handelt es sich um Schätzunge­n auf Basis einer Sora-Hochrechnu­ng – haben ihre Stimmen an Parteien vergeben, die an der Fünfprozen­thürde für den Einzug in die Volksvertr­etung gescheiter­t sind.

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Christoph Wiederkehr (Neos), Michael Ludwig (SPÖ), Birgit Hebein (Grüne): Viele Wiener werden von den Siegern nicht repräsenti­ert.

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