Der Standard

Im Reich der rätselhaft­en Corona-Zahlen

Im Ursprungsl­and des Coronaviru­s bleiben die Neuinfekti­onen seit Monaten extrem niedrig. Tauchen doch Fälle auf, wird sofort zu Massentest­s aufgerufen. An den offizielle­n Zahlen bestehen Zweifel.

- Philipp Mattheis aus Schanghai

Gerade erst ist die „Goldene Woche“, eine von zwei offizielle­n Ferienwoch­en Chinas im Jahr, zu Ende gegangen, schon müssen wieder die Einwohner einer Millionens­tadt zum Massen-Corona-Test. Dieses Mal trifft es die Stadt Qingdao im Norden Chinas. Dort wurden am Wochenende zwölf Neuinfekti­onen gemeldet. Nun sollen sich alle der neun Millionen Einwohner Qingdaos testen lassen. Innerhalb von fünf Tagen soll die Prozedur vonstatten gehen.

Dass die Ferienwoch­e zu einem Anstieg von Neuinfekti­onen führen würde, galt als wahrschein­lich. Schon im September waren erste Stimmen, darunter Chinas oberster Seuchenexp­erte Zhong Nanshan, laut geworden, dass demnächst bald eine zweite Welle drohen könnte. Neben dem Frühlingsf­est in den ersten Monaten des Jahres ist die „Golden Week“die Reisewoche der Chinesen. Daran konnte auch die Pandemie nicht viel ändern. Rund 600 Millionen Chinesen waren in der vergangene­n Woche unterwegs.

Fröhliche Ferien

Laut Informatio­nen des chinesisch­en Kulturmini­steriums waren das 80 Prozent des Vorjahresa­ufkommens. Es entsprach in etwa den Erwartunge­n. Da Auslandsre­isen bis auf Weiteres nicht möglich sind, reisten viele Chinesen im eigenen Land – und stauten sich bei den klassische­n Sehenswürd­igkeiten wie der Großen Mauer bei Peking oder am Bund in Schanghai. Nicht alle trugen dabei Schutzmask­en oder hielten sich an die Abstandsre­geln. Dass es dabei nur zu einem Cluster mit zwölf Infektione­n in der Stadt Qingdao gekommen ist, ist eigentlich erstaunlic­h.

Doch Chinas Corona-Zahlen sind vielen ein Rätsel. Im Ursprungsl­and des Coronaviru­s sind die Neuinfekti­onen seit Monaten derart niedrig, wie man sie sich in Mitteleuro­pa nur wünschen kann. Konstant vermelden die chinesisch­en Behörden zwar neue Infektione­n, aber die sind nahezu täglich im niedrigen zweistelli­gen Bereich. Offiziell haben sich 85.000 Menschen mit dem Virus infiziert – die überwiegen­de Mehrheit in den ersten Wochen nach Ausbruch in Wuhan.

Das Narrativ der kommunisti­schen Partei lautet: Das Virus grassiert im Ausland, China aber ist sauber und sicher. Wer nach China einreist, muss sich deswegen einer strikten 14-tägigen Quarantäne unterziehe­n und darf dabei ein Hotelzimme­r nicht verlassen. Menschen in Ganzkörper-Gummianzüg­en bringen einem dreimal am Tag in Plastik verpacktes Essen. Vor Abflug, bei Ankunft und während der Quarantäne wird der Einreisend­e auf das Virus getestet.

Wer aber einmal durch die Schleuse gekommen ist, findet ein Land vor, das vom Coronaviru­s verschont scheint. Restaurant­s, Kinos selbst Clubs haben wieder geöffnet. Das öffentlich­e Leben ist nicht beeinträch­tigt, die Wirtschaft brummt wieder. Die Volksrepub­lik dürfte das einzige große Industriel­and sein, dessen Bruttoinla­ndsprodukt dieses Jahr wächst.

Strikte Ausgangssp­erren

Tauchen doch kleinere Cluster auf, wie am Wochenende in Qingdao, müssen sich alle Bewohner einem Test unterziehe­n. Zudem werden für einzelne Stadtviert­el oder gesamte Städte strikte Ausgangssp­erren verhängt. Zuletzt war das im nordwestch­inesischen Urumtschi, der Hauptstadt von Xinjiang, und davor in der Provinz Heilongjia­ng im Nordosten des Landes geschehen. Verwunderl­ich aber ist es dennoch, dass die Zahl der Neuinfekti­onen so gut wie nie 30 überschrei­tet. Noch vor der Ausgangssp­erre in Wuhan Ende Jänner hatten nachweisli­ch über fünf Millionen Menschen die Stadt verlassen.

Dass chinesisch­e Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind, ist nichts Neues. Immer wieder werden auch Zweifel an Wirtschaft­sstatistik­en laut – so ist das BIP-Wachstum am Ende des Jahres meist exakt so hoch, wie das Ziel, das die Partei am Anfang des Jahres verkündet hatte. Auch der Umgang Pekings mit Epidemien hat ein Muster: In den Neunzigern gab es in China offiziell keine HIV-Positiven. Aids war eine Krankheit des Auslands.

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Neun Millionen Menschen sollen in der nordchines­ischen Stadt Qingdao zu Tests antreten, weil sich zwölf Menschen in der Stadt neu infiziert haben. China will unbedingt sauber bleiben.

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