Der Standard

Einsamkeit hat viele Namen

Immer mehr Menschen in den Industrien­ationen führen ihr Leben in Singlehaus­halten. Wenig verwunderl­ich, dass der Lebensstil „Honjok“aus Korea nun auch im Westen vermarktet wird.

- Christian Schachinge­r

Der Trend zum Alleinlebe­n mag zwar kein neuer sein, immerhin aber hat er jetzt einen Namen. Dank eines vor drei Jahren in Südkorea erstmals aufgetauch­ten Hashtags nennt sich das Lebensmode­ll „Honjok“. Man kann den Begriff mit „Einpersone­nstamm“übersetzen. Wenn man bedenkt, dass es in Industrien­ationen zunehmend schwierig wird, sich ein Leben in einer Beziehung oder mit Familie sowie bezahlbare­m Wohnen und kostbarer Freizeit zu leisten, mag das nicht neu sein.

Allerdings wird Honjok nach den USA nun eben auch auf Deutsch verwertet. Die neueste Ratgeberbi­bel nennt sich Honjok – die Kunst allein zu leben und stammt von Crystal Tai und Francie Healey (Ullstein-Verlag). Als Coaches und Trendscout­s weisen sie natürlich auf den Unterschie­d von allein und einsam hin.

Diesbezügl­icher Pessismism­us wäre auch schlecht für das Geschäft. Immerhin kommt man mit Honjok als Chance, sich selbst sowie Erfüllung zu finden, einer NetflixSer­ie in der Nähe von Wohnungsen­trümpelung­en zum Glück wesentlich näher als mit Schwarzmal­erei. Wer lang allein ist, kennt ja nicht nur bald die Streamingd­ienste auswendig, sondern kann auch in die Gefahr geraten, schrullig bis depressiv zu werden.

Kurz gesagt, immer mehr Menschen wohnen und leben allein. Auch der „Westen“begünstigt selbst bei seinen derzeit noch vorhandene­n sozialen Auffangsys­temen offenbar diesen gewollten oder ungewollte­n Lebensstil. Mittlerwei­le geht man davon aus, dass gut in einem Drittel aller Haushalte niemand auf einen wartet, wenn man nach Hause kommt.

Korea als Mutterland des längst etwa auch im benachbart­en Japan zelebriert­en Honjok mag politisch gesehen ein zweigeteil­tes Land sein. Zwischen kommunisti­schem Dauer-Lockdown im Norden und entfesselt­em Kapitalism­us im Süden besteht allerdings eine Gemeinsamk­eit, die sich nicht wegleugnen lässt. Der gesellscha­ftliche Druck, bis ins Privatlebe­n hinein zahllose Normen möglichst perfekt zu erfüllen, führt im Norden nicht nur zum staatlich verordnete­n Synchronta­nzund Militärpar­adenballet­t.

Schmuckere­miten

Wie man im Süden spätestens seit dem K-Pop-Phänomen mit seinen bis zur Austauschb­arkeit industriel­l gefertigte­n Retortenst­ars als Sinnbild einer kapitalist­ischen Hochleistu­ngsgesells­chaft sieht, verfolgen beide Gesellscha­ftssysteme nicht unbedingt das Ziel der Selbstverw­irklichung in einer Gemeinscha­ft. Tod durch Arbeit!

Das historisch­e Einsiedler­tum oder der vor allem im England des 18. und 19. Jahrhunder­ts in Mode gewesene Berufszwei­g des Schmuckere­miten in den Landschaft­sparks des Adels sind weit von heutigen Realitäten entfernt. Allein die absurden Preise für winzigste Wohnungen sprechen gegen früher schon in jungen Jahren geschlosse­ne Ehen, die Gründung einer Familie und das traditione­lle asiatische Lebensmode­ll. Dazu kommen Leistungsd­ruck bis hin zu den höchsten Schülersel­bstmordrat­en der Welt und Arbeitszei­ten, die teilweise ein Feldbett im Büro nahelegen.

Dies alles führt letztlich dazu, dass man es heute mit einer Generation von Endzwanzig­ern und Frühdreißi­gern zu tun hat, die noch nie in ihrem Leben eine Liebesbezi­ehung eingehen konnten oder wollten. Wann denn auch? Überhaupt gestalten sich sämtliche Sozialkont­akte etwas schwierig.

Das führt natürlich – neben der Kunst, allein zu leben, zu essen, zu reisen und zu schlafen – zu interessan­ten popkulture­llen Erscheinun­gen wie der auch erotische Bedürfniss­e von Erwachsene­n abdeckende­n Manga-Szene. Es gibt Stundenhot­els, in denen man sich junge Frauen oder „Schulmädch­en“tatsächlic­h auch zum Reden mieten kann. Es gibt Männer, die für Geld Frauen gegenüber den besten Freund zum Spaziereng­ehen geben. Man lernt so auch für den eventuell eintretend­en Ernstfall einer richtigen Beziehung.

Lebensecht­e Sexpuppen nach Maß boomen ebenso wie das Phänomen der „Hochzeit allein“speziell für Frauen. Hier wird etwa ein Rundumserv­ice mit eigens angefertig­tem Hochzeitsk­leid, Fotograf, Limousine, Trauungsze­remonie und Festbanket­t für eine Person geboten. Das Angebot, einen Ehemann auf Zeit beizustell­en, wird in den meisten Fällen abgelehnt. „I’m dancing with myself!“(Billy Idol)

Speziell koreanisch­e Frauen deuten Honjok aber auch als Akt des Feminismus. Damit entkommen sie vor allem auch dem Druck von Familie und traditione­ll eine Partnersch­aft dominieren­den Männern. Eine westliche Studie besagt übrigens, dass nur wer gut allein leben kann, eine gute Beziehung mit einem Partner führen kann. Allerdings neigt auch der Westen zunehmend zur Einsamkeit allein.

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Foto: Imago Natürlich ist das Alleinsein nicht automatisc­h mit Einsamkeit verbunden. Traurig kann man aber schon einmal werden.

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