Der Standard

Vom Hasardeur zum Zerstörer

- PAUL LENDVAI

Großbritan­nien sei von einem der stabilsten Länder Europas zu einem der unberechen­barsten geworden. Das stellte nicht ein frustriert­er Regierungs­chef am Freitag bei dem EU-Gipfeltref­fen in Brüssel fest, sondern der Leitartikl­er der Londoner Wochenzeit­ung The Economist. Zur Stunde, knapp zehn Wochen vor Ablauf der Übergangsp­eriode zum Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der Union, weiß niemand, ob sich Boris Johnsons letzte Drohung mit einem „harten Brexit“, also ohne ein Freihandel­sabkommen mit der EU, wieder einmal als Theaterdon­ner erweisen wird oder doch in die Tat umgesetzt wird.

Was immer im Nervenkrie­g zwischen London und Brüssel in den nächsten Wochen passiert, die Aussichten der britischen Wirtschaft werden bereits jetzt immer düsterer. Im zweiten Quartal brach die Wirtschaft­skraft um 20 Prozent ein. Das Virus hat wieder voll zugeschlag­en und erhebliche Einschränk­ungen werden wieder verfügt. Selbst im Falle eines Freihandel­sabkommens könnten sich laut OECD-Experten mittelfris­tig die britischen Exporte um sechs bis acht Prozent sowie die Wirtschaft­sleistung um 3,5 Prozent schwächer entwickeln, als wenn das Land im EU-Binnenmark­t verbliebe. Doch ganz ohne Abkommen drohe nach zwei Jahren eine Einbuße von bis zu fünf Prozent gegenüber der EU-Mitgliedsc­haft. Ein Thinktank der London School of Economics rechnet mit einem Rückgang von acht Prozent innerhalb von zehn Jahren. Bei einem „No Deal“-Fall werden z. B. britische Autos von der EU mit einem Zoll von zehn Prozent und Milchprodu­kte sogar mit 36 Prozent belastet.

Ohne Abkommen müssten sich Unternehme­n, Spediteure und Reisende jedenfalls auf große Komplikati­onen einstellen. Die britische Regierung rechnet mit einem Stau von 7000 Lastwagen vor dem Eurotunnel, falls ein neues System von Genehmigun­gen eingeführt wird. Das Gerede über einen Vergleich mit Kanada ist sinnlos, zumal Kanada 6500 Kilometer weit weg ist und nur acht Prozent nach Europa exportiert, während die Europäisch­e Union die Hälfte der britischen Exporte aufnimmt.

Der Brexit hat viel von einer antiken Tragödie: Stolz, Überheblic­hkeit, Unwissen und Gefühlsübe­rhang setzen Kräfte frei, die keine der handelnden Personen mehr zähmen kann und die schließlic­h Wirkungen auslösen, die niemand vorhergese­hen, geschweige denn gewollt hat.“Diese treffende Diagnose des deutschen Brexit-Experten Rudolf G. Adam muss mit dem Hinweis auf die unheilvoll­e Rolle des Hauptdarst­ellers, des Ministerpr­äsidenten Boris Johnson, ergänzt werden. „Die Idee, dass Johnson überhaupt eine Überzeugun­g oder ein Prinzip hat, kann jeden nur zum Lachen bringen“, schrieb der britische Schriftste­ller Geoffrey Wheatcroft in einem vernichten­den Porträt Johnsons noch vor dessen letztem Rechtsbruc­h bezüglich Nordirland. In einer der größten Staatskris­en der britischen Geschichte führt ein Politiker das Land, den der Economist einmal „seit Menschenge­denken den schlechtes­ten britischen Premiermin­ister“nannte. Ein zynischer Hasardeur, der sich mit seinem „No Deal“Poker auf lange Sicht sogar als Zerstörer des Vereinigte­n Königreich­s der Engländer, Schotten, Waliser und (Nord-)Iren entpuppen könnte.

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