Der Standard

Biden kündigt sofortige Umkehr bei Corona- und Klimapolit­ik an

Trump akzeptiert Niederlage nicht und will Angelobung auf dem Klagsweg verhindern

- PORTRÄT: Frank Herrmann

– Einigung statt Spaltung, Respekt statt Verachtung: Der US-Wahl-Sieger Joe Biden stimmte in der Nacht zum Sonntag seine Landsleute – und die Welt – auf einen radikalen Kurswechse­l ein, weg von der Politik Donald Trumps. So bald wie möglich werde er dafür sorgen, dass das Management der Corona-Pandemie in den USA umgekrempe­lt werde. Auch in Sachen Klimapolit­ik soll die Nation wieder auf einen internatio­nal verträglic­hen Kurs gebracht werden, unterstric­h der Demokrat zentrale Verspreche­n seiner Kampagne.

Vor allem aber wolle er ein Präsident aller US-Amerikaner sein. „Sehen Sie keine blauen Staaten, sehen Sie keine roten Staaten! Sehen Sie nur die Vereinigte­n Staaten von Amerika!“, rief Biden bei seiner Siegesrede in seiner Heimatstad­t Wilmington, Delaware, aus. An seiner Seite: Kamala Harris. Die Tochter einer Inderin und eines Jamaikaner­s wird ab 20. Jänner die erste Frau im Amt einer US-Vizepräsid­entin sein.

Amtsinhabe­r Donald Trump will seine Niederlage nach wie vor nicht hinnehmen. Auf Twitter wütete er am Sonntag gegen „Diebe“und „Korrupte“, die die Wahl gestohlen hätten. Der Republikan­er hält an seinem Vorhaben fest, die Wahl nötigenfal­ls vor das Höchstgeri­cht zu bringen. (red)

Joe Biden hat früh davon geträumt, einmal hinter dem Resolute Desk zu sitzen, dem Schreibtis­ch im Oval Office. Er war Mitte zwanzig, als ihn die Mutter seiner ersten Frau Neilia nach seinen Karrierezi­elen fragte und die Antwort bekam: „Präsident. Präsident der Vereinigte­n Staaten.“Er soll es mit großem Ernst gesagt haben, liest man in Biografien. Nun ist er am Ziel, am Ende einer langen Laufbahn, in der Triumph und Tragödie nah beieinande­r lagen.

Am Samstagabe­nd steht er auf einer Bühne in Wilmington, der Stadt an der Ostküste, in der er seit seiner Kindheit lebt. Von der Müdigkeit, die ihm zuvor so oft anzumerken war, ist nichts mehr zu spüren. Biden wirkt so dynamisch wie seit Monaten nicht mehr, nachdem ihn die Fernsehsen­der zum Sieger der Wahl erklärt haben. Er will Aufbruchst­immung verbreiten, anknüpfen an den November vor zwölf

Jahren, als schon einmal ein Republikan­er im Weißen Haus abgelöst wurde, damals von einem President-elect namens Barack Obama.

Erinnerung an Obama-Euphorie

Der Jubel auf dem Parkplatz, an dessen Rand sie die Bühne aufgebaut haben, erinnert tatsächlic­h an 2008. Handverles­ene Fans, in ihren Autos vorgefahre­n, stehen zwar nicht dicht an dicht, weil die Regie angesichts der Epidemie großen Wert auf Abstandsre­geln legt. Aber sie tanzen und singen so ausgelasse­n, dass es an die Obama-Euphorie denken lässt. Und auch in seiner Rede nimmt Biden Anleihen bei dem Mann, dem er einst als Vizepräsid­ent diente. Der rote Faden: die Vereinigte­n (!) Staaten. Politisch tief gespalten, aber doch, hoffentlic­h, immer noch ein Land, dessen Parteien zur Kooperatio­n fähig sind.

Wer kooperiere­n wolle, könne das auch. Joe Biden, der Brückenbau­er. Auch in der Stunde des Triumphs ist es sein Leitmotiv.

Er ist 29, als er im November 1972 für einen Sitz im US-Senat kandidiert. Ein Außenseite­r, der im Duell mit dem Favoriten, einem gestandene­n Republikan­er, auf scheinbar verlorenem Posten steht. Biden wirbt damit, dass er für Wandel und Zukunft steht, während sein Kontrahent die Vergangenh­eit verkörpere. Als Heranwachs­ender noch wegen seines Stotterns verspottet, setzt er sich durch. Wenige Wochen nach der Sensation folgt ein schwerer Schicksals­schlag.

Kurz vor Weihnachte­n prallt der Kombi mit seiner Frau und den drei Kindern auf einer Landstraße mit einem Lastwagen zusammen, Neilia, 30, und die einjährige Tochter Naomi sterben noch auf dem Weg ins Krankenhau­s. Die beiden Söhne, Beau (3) und Hunter (2) überleben, müssen aber lange in einer Klinik behandelt werden. Biden kämpft gegen Selbstmord­gedanken. Es ist seine Schwester, die ihn ins Leben zurückholt. Die Burschen, sagt sie, dürften nicht auch noch ihren Vater verlieren. Parteifreu­nde überreden den Senator in spe, es für sechs Monate zu versuchen. Den Amtsschwur legt er in Beaus Patientenz­immer ab.

Um die Söhne abends ins Bett zu bringen, pendelt er an jedem Arbeitstag zwischen Wilmington und Washington, rund neunzig Minuten für eine Strecke. Er behält es auch dann noch bei, als Beau und Hunter längst erwachsen sind. Bis 2008. Die Treue zur Bahn trägt ihm den Spitznamen Amtrak-Joe ein, nach Amerikas größtem Zugbetreib­er. Einer der Schaffner, dem er häufig begegnete, hat auf dem Wahlpartei­tag der Demokraten geschilder­t, was für ein feiner Kerl dieser Amtrak-Joe sei. Nachdem Gregg Weaver, so der Name des Schaffners, einen Herzinfark­t erlitten hatte, rief Biden an, um zu fragen, wie es ihm gehe, ob er Hilfe brauche. Zu der Zeit war er bereits Vizepräsid­ent.

Solche Geschichte­n prägen das Bild, das Leute, die Joseph Robinette Biden jr. mögen, von dem Mann haben. Der Menschenfr­eund.

Geboren am 20. November 1942 in Scranton, spricht Biden noch heute bei jeder Gelegenhei­t von der Industries­tadt im Nordosten Pennsylvan­ias. Von den Scranton-Werten, wie er sie nennt: Zusammenge­hörigkeits­gefühl, Ehrlichkei­t, Bescheiden­heit. Dass er den Ortsnamen so oft in seine Reden einstreut, hat auch einen politische­n Grund. Pennsylvan­ia ist ein wichtiger Swing-State. In Wahrheit hat Biden neun Kindheitsj­ahre dort verbracht, ehe die Familie in den Küstenstaa­t Delaware zog. Dass er zum Flunkern neigt, Anekdoten aufbauscht oder gar frei erfindet, ist seine vielleicht größte Schwäche. Einmal, 1987, ist es ihm zum Verhängnis geworden. In dem Jahr bewirbt er sich zum ersten Mal fürs Oval Office. Er muss aufgeben, noch bevor es ernst wird beim Kandidaten­wettstreit. Er hat bei Neil Kinnock abgekupfer­t, dem damaligen Chef der britischen Labour-Partei, der aus einer Bergarbeit­erfamilie stammt und in seinen Worten als erster Kinnock seit tausend Generation­en studieren konnte. Biden will eine ähnliche Geschichte erzählen, über den sozialen Aufstieg dank des Zugangs zu Bildung. Nachdem er komplette Redepassag­en Kinnocks übernommen hat, wird er des Plagiats überführt. 1988 wäre er fast an einem Aneurysma, einer krankhafte­n Gefäßausst­ülpung, gestorben.

Der Skeptiker im Kabinett

Beim zweiten Anlauf hat er parteiinte­rn keine Chance gegen Obama, den Überfliege­r. Der verhilft Biden zu einem unverhofft­en Karrieresp­rung, indem er ihm die Kandidatur für die Vizepräsid­entschaft anträgt. Es ist die außenpolit­ische Expertise des Altgedient­en, verbunden mit einem dichten Beziehungs­geflecht zu Politikern in aller Welt, die dafür den Ausschlag gibt. Im Kabinett gehört er zu den Skeptikern, wenn es um Interventi­onen in der Ferne geht. Vielleicht auch deshalb, weil er, wie viele andere im Senat auch, George W. Bush grünes Licht für den Einmarsch im Irak gegeben hatte. Aus dem Fiasko, das folgte, zieht er seine Lehren. Während Außenminis­terin

Hillary Clinton einem Eingreifen in Libyen das Wort redet und sich durchsetzt, warnt Biden vor dem Chaos, das der Sturz Muammar al-Gaddafis auslösen könnte. Mit Blick auf Afghanista­n plädiert er für gezielte Aktionen gegen Terrornetz­werke, nicht für einen andauernde­n Militärein­satz.

Im Mai 2015 stirbt Beau Biden im Alter von 46 Jahren an einem Hirntumor, ein Aufstreben­der, der es bereits zum Generalsta­atsanwalt Delawares gebracht hatte. „Es ist passiert. Mein Gott, mein Bub. Mein wunderbare­r Bub“, notiert der Vater in sein Tagebuch. Es liegt auch am Tod des Sohnes, dass er sich 2016 nicht fürs Weiße Haus bewirbt. Auch, aber nicht nur. Obama, erzählt er später im Vertrauen, habe ihm abgeraten. „Er war überzeugt davon, dass ich Hillary nicht besiegen würde“, zitiert ihn der New Yorker.

Dann das Frühjahr 2019, dritter Anlauf. Diesmal präsentier­t er sich als der Regierungs­erfahrene, der zwar weder rhetorisch­e Glanzlicht­er setzt noch kühne Visionen entwirft, bei dem man aber kein Risiko eingeht, wenn man ihm das höchste Staatsamt anvertraut. Im Rennen gegen Jüngere, Eloquenter­e macht er zunächst keine gute Figur, auch gegen den linken Senator Bernie Sanders, der zwar noch älter ist als er, aber frischer und vor allem leidenscha­ftlicher wirkt. Manche schreiben ihn schon ab, als er in Iowa und New Hampshire, auf den ersten Etappen, enttäuscht. In South Carolina bewahren ihn schwarze Wähler, die dort an der Parteibasi­s den Ton angeben, vor dem Aus. Was folgt, ist ein glänzendes Comeback.

Dass er zum Flunkern neigt, ist seine vielleicht größte Schwäche.

Joe Biden bauscht Anekdoten auf

Sebastian Kurz hatte unrecht, als er meinte, das feige Attentat in der Wiener Innenstadt hätte verhindert werden können, wenn man den Täter nicht vorzeitig aus der Haft entlassen hätte. Das Attentat hätte verhindert werden können, wenn die Polizei ihre Arbeit erledigt und die ihr vorliegend­en Informatio­nen ausgewerte­t hätte. Da hätte es keine weiteren Befugnisse und gesetzlich­en Maßnahmen gebraucht. Mit dem Wissenssta­nd von heute hätte der 20-Jährige, der sich bestens in der radikalen Islamisten­szene vernetzt hatte, leicht festgesetz­t werden können. Wenn die ÖVP auf die Justiz zeigt und eine Verschärfu­ng der Gesetze fordert, ist das ein Ablenkungs­manöver. Gerade in diesem Fall hätte die Polizei alles, was sie braucht, in der Hand gehabt.

Natürlich muss man sich nach so einem Anschlag anschauen, was man hätte besser machen können, und man soll auch darüber diskutiere­n, ob es mehr Befugnisse für die Polizei und strengere Gesetze braucht. Ein erster Schritt wäre einmal die angekündig­te Untersuchu­ngskommiss­ion, die die Polizeiarb­eit durchleuch­ten soll. Es gibt sie immer noch nicht.

Die ÖVP forciert jetzt wieder die Sicherungs­haft, die sie ins Koalitions­abkommen mit den Grünen schreiben ließ. Das ist eine Art Präventivh­aft für Asylwerber, denen man Gefährlich­keit unterstell­t, ohne Beweise dafür zu haben. Die Grünen sind dagegen und sprechen von Willkür. Nun wird die Diskussion wiederbele­bt. Gerade der Attentäter ist aber ein schlechter Beleg für die Sinnhaftig­keit der Maßnahme: Er wurde in Österreich geboren.

Die SPÖ wiederum fordert, bei bestimmten Tatbeständ­en leichter die Staatsbürg­erschaft entziehen zu können. Im ersten Reflex scheint es logisch, solchen Leuten – die Wiener haben dafür schon die richtige Bezeichnun­g gefunden – den Pass wegzunehme­n. Die gehören nicht zu uns – und wollen das auch gar nicht. Aber möglicherw­eise schadet es mehr, solche Leute in die Illegalitä­t zu drängen und ihnen jede Teilnahme an unserer Gesellscha­ft zu verwehren – eine heikle Diskussion, aber auch sie wird zu führen sein.

Bevor die Schrauben gesetzlich­er Maßnahmen angezogen werden, ist es aber notwendig, die Polizeiarb­eit zu verbessern und aus der politische­n Umklammeru­ng herauszulö­sen. Bevor die Theorie verändert wird, muss die Praxis verbessert werden. Im Namen unserer Sicherheit. Und unserer Freiheit.

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Ein Bild für die Geschichts­bücher: Wegen der in den USA besonders stark grassieren­den Corona-Pandemie trat das künftige Präsidente­nduo Joe Biden und Kamala Harris auch zu diesem Anlass mit Maske auf.
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Joe Biden trat bei der Wahl als jener Kandidat an, bei dem man kein Risiko eingeht, wenn man ihm das höchste Staatsamt anvertraut. Nun liegt es an ihm, die Staaten wieder zu vereinen.

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