Biden kündigt sofortige Umkehr bei Corona- und Klimapolitik an
Trump akzeptiert Niederlage nicht und will Angelobung auf dem Klagsweg verhindern
– Einigung statt Spaltung, Respekt statt Verachtung: Der US-Wahl-Sieger Joe Biden stimmte in der Nacht zum Sonntag seine Landsleute – und die Welt – auf einen radikalen Kurswechsel ein, weg von der Politik Donald Trumps. So bald wie möglich werde er dafür sorgen, dass das Management der Corona-Pandemie in den USA umgekrempelt werde. Auch in Sachen Klimapolitik soll die Nation wieder auf einen international verträglichen Kurs gebracht werden, unterstrich der Demokrat zentrale Versprechen seiner Kampagne.
Vor allem aber wolle er ein Präsident aller US-Amerikaner sein. „Sehen Sie keine blauen Staaten, sehen Sie keine roten Staaten! Sehen Sie nur die Vereinigten Staaten von Amerika!“, rief Biden bei seiner Siegesrede in seiner Heimatstadt Wilmington, Delaware, aus. An seiner Seite: Kamala Harris. Die Tochter einer Inderin und eines Jamaikaners wird ab 20. Jänner die erste Frau im Amt einer US-Vizepräsidentin sein.
Amtsinhaber Donald Trump will seine Niederlage nach wie vor nicht hinnehmen. Auf Twitter wütete er am Sonntag gegen „Diebe“und „Korrupte“, die die Wahl gestohlen hätten. Der Republikaner hält an seinem Vorhaben fest, die Wahl nötigenfalls vor das Höchstgericht zu bringen. (red)
Joe Biden hat früh davon geträumt, einmal hinter dem Resolute Desk zu sitzen, dem Schreibtisch im Oval Office. Er war Mitte zwanzig, als ihn die Mutter seiner ersten Frau Neilia nach seinen Karrierezielen fragte und die Antwort bekam: „Präsident. Präsident der Vereinigten Staaten.“Er soll es mit großem Ernst gesagt haben, liest man in Biografien. Nun ist er am Ziel, am Ende einer langen Laufbahn, in der Triumph und Tragödie nah beieinander lagen.
Am Samstagabend steht er auf einer Bühne in Wilmington, der Stadt an der Ostküste, in der er seit seiner Kindheit lebt. Von der Müdigkeit, die ihm zuvor so oft anzumerken war, ist nichts mehr zu spüren. Biden wirkt so dynamisch wie seit Monaten nicht mehr, nachdem ihn die Fernsehsender zum Sieger der Wahl erklärt haben. Er will Aufbruchstimmung verbreiten, anknüpfen an den November vor zwölf
Jahren, als schon einmal ein Republikaner im Weißen Haus abgelöst wurde, damals von einem President-elect namens Barack Obama.
Erinnerung an Obama-Euphorie
Der Jubel auf dem Parkplatz, an dessen Rand sie die Bühne aufgebaut haben, erinnert tatsächlich an 2008. Handverlesene Fans, in ihren Autos vorgefahren, stehen zwar nicht dicht an dicht, weil die Regie angesichts der Epidemie großen Wert auf Abstandsregeln legt. Aber sie tanzen und singen so ausgelassen, dass es an die Obama-Euphorie denken lässt. Und auch in seiner Rede nimmt Biden Anleihen bei dem Mann, dem er einst als Vizepräsident diente. Der rote Faden: die Vereinigten (!) Staaten. Politisch tief gespalten, aber doch, hoffentlich, immer noch ein Land, dessen Parteien zur Kooperation fähig sind.
Wer kooperieren wolle, könne das auch. Joe Biden, der Brückenbauer. Auch in der Stunde des Triumphs ist es sein Leitmotiv.
Er ist 29, als er im November 1972 für einen Sitz im US-Senat kandidiert. Ein Außenseiter, der im Duell mit dem Favoriten, einem gestandenen Republikaner, auf scheinbar verlorenem Posten steht. Biden wirbt damit, dass er für Wandel und Zukunft steht, während sein Kontrahent die Vergangenheit verkörpere. Als Heranwachsender noch wegen seines Stotterns verspottet, setzt er sich durch. Wenige Wochen nach der Sensation folgt ein schwerer Schicksalsschlag.
Kurz vor Weihnachten prallt der Kombi mit seiner Frau und den drei Kindern auf einer Landstraße mit einem Lastwagen zusammen, Neilia, 30, und die einjährige Tochter Naomi sterben noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Die beiden Söhne, Beau (3) und Hunter (2) überleben, müssen aber lange in einer Klinik behandelt werden. Biden kämpft gegen Selbstmordgedanken. Es ist seine Schwester, die ihn ins Leben zurückholt. Die Burschen, sagt sie, dürften nicht auch noch ihren Vater verlieren. Parteifreunde überreden den Senator in spe, es für sechs Monate zu versuchen. Den Amtsschwur legt er in Beaus Patientenzimmer ab.
Um die Söhne abends ins Bett zu bringen, pendelt er an jedem Arbeitstag zwischen Wilmington und Washington, rund neunzig Minuten für eine Strecke. Er behält es auch dann noch bei, als Beau und Hunter längst erwachsen sind. Bis 2008. Die Treue zur Bahn trägt ihm den Spitznamen Amtrak-Joe ein, nach Amerikas größtem Zugbetreiber. Einer der Schaffner, dem er häufig begegnete, hat auf dem Wahlparteitag der Demokraten geschildert, was für ein feiner Kerl dieser Amtrak-Joe sei. Nachdem Gregg Weaver, so der Name des Schaffners, einen Herzinfarkt erlitten hatte, rief Biden an, um zu fragen, wie es ihm gehe, ob er Hilfe brauche. Zu der Zeit war er bereits Vizepräsident.
Solche Geschichten prägen das Bild, das Leute, die Joseph Robinette Biden jr. mögen, von dem Mann haben. Der Menschenfreund.
Geboren am 20. November 1942 in Scranton, spricht Biden noch heute bei jeder Gelegenheit von der Industriestadt im Nordosten Pennsylvanias. Von den Scranton-Werten, wie er sie nennt: Zusammengehörigkeitsgefühl, Ehrlichkeit, Bescheidenheit. Dass er den Ortsnamen so oft in seine Reden einstreut, hat auch einen politischen Grund. Pennsylvania ist ein wichtiger Swing-State. In Wahrheit hat Biden neun Kindheitsjahre dort verbracht, ehe die Familie in den Küstenstaat Delaware zog. Dass er zum Flunkern neigt, Anekdoten aufbauscht oder gar frei erfindet, ist seine vielleicht größte Schwäche. Einmal, 1987, ist es ihm zum Verhängnis geworden. In dem Jahr bewirbt er sich zum ersten Mal fürs Oval Office. Er muss aufgeben, noch bevor es ernst wird beim Kandidatenwettstreit. Er hat bei Neil Kinnock abgekupfert, dem damaligen Chef der britischen Labour-Partei, der aus einer Bergarbeiterfamilie stammt und in seinen Worten als erster Kinnock seit tausend Generationen studieren konnte. Biden will eine ähnliche Geschichte erzählen, über den sozialen Aufstieg dank des Zugangs zu Bildung. Nachdem er komplette Redepassagen Kinnocks übernommen hat, wird er des Plagiats überführt. 1988 wäre er fast an einem Aneurysma, einer krankhaften Gefäßausstülpung, gestorben.
Der Skeptiker im Kabinett
Beim zweiten Anlauf hat er parteiintern keine Chance gegen Obama, den Überflieger. Der verhilft Biden zu einem unverhofften Karrieresprung, indem er ihm die Kandidatur für die Vizepräsidentschaft anträgt. Es ist die außenpolitische Expertise des Altgedienten, verbunden mit einem dichten Beziehungsgeflecht zu Politikern in aller Welt, die dafür den Ausschlag gibt. Im Kabinett gehört er zu den Skeptikern, wenn es um Interventionen in der Ferne geht. Vielleicht auch deshalb, weil er, wie viele andere im Senat auch, George W. Bush grünes Licht für den Einmarsch im Irak gegeben hatte. Aus dem Fiasko, das folgte, zieht er seine Lehren. Während Außenministerin
Hillary Clinton einem Eingreifen in Libyen das Wort redet und sich durchsetzt, warnt Biden vor dem Chaos, das der Sturz Muammar al-Gaddafis auslösen könnte. Mit Blick auf Afghanistan plädiert er für gezielte Aktionen gegen Terrornetzwerke, nicht für einen andauernden Militäreinsatz.
Im Mai 2015 stirbt Beau Biden im Alter von 46 Jahren an einem Hirntumor, ein Aufstrebender, der es bereits zum Generalstaatsanwalt Delawares gebracht hatte. „Es ist passiert. Mein Gott, mein Bub. Mein wunderbarer Bub“, notiert der Vater in sein Tagebuch. Es liegt auch am Tod des Sohnes, dass er sich 2016 nicht fürs Weiße Haus bewirbt. Auch, aber nicht nur. Obama, erzählt er später im Vertrauen, habe ihm abgeraten. „Er war überzeugt davon, dass ich Hillary nicht besiegen würde“, zitiert ihn der New Yorker.
Dann das Frühjahr 2019, dritter Anlauf. Diesmal präsentiert er sich als der Regierungserfahrene, der zwar weder rhetorische Glanzlichter setzt noch kühne Visionen entwirft, bei dem man aber kein Risiko eingeht, wenn man ihm das höchste Staatsamt anvertraut. Im Rennen gegen Jüngere, Eloquentere macht er zunächst keine gute Figur, auch gegen den linken Senator Bernie Sanders, der zwar noch älter ist als er, aber frischer und vor allem leidenschaftlicher wirkt. Manche schreiben ihn schon ab, als er in Iowa und New Hampshire, auf den ersten Etappen, enttäuscht. In South Carolina bewahren ihn schwarze Wähler, die dort an der Parteibasis den Ton angeben, vor dem Aus. Was folgt, ist ein glänzendes Comeback.
Dass er zum Flunkern neigt, ist seine vielleicht größte Schwäche.
Joe Biden bauscht Anekdoten auf
Sebastian Kurz hatte unrecht, als er meinte, das feige Attentat in der Wiener Innenstadt hätte verhindert werden können, wenn man den Täter nicht vorzeitig aus der Haft entlassen hätte. Das Attentat hätte verhindert werden können, wenn die Polizei ihre Arbeit erledigt und die ihr vorliegenden Informationen ausgewertet hätte. Da hätte es keine weiteren Befugnisse und gesetzlichen Maßnahmen gebraucht. Mit dem Wissensstand von heute hätte der 20-Jährige, der sich bestens in der radikalen Islamistenszene vernetzt hatte, leicht festgesetzt werden können. Wenn die ÖVP auf die Justiz zeigt und eine Verschärfung der Gesetze fordert, ist das ein Ablenkungsmanöver. Gerade in diesem Fall hätte die Polizei alles, was sie braucht, in der Hand gehabt.
Natürlich muss man sich nach so einem Anschlag anschauen, was man hätte besser machen können, und man soll auch darüber diskutieren, ob es mehr Befugnisse für die Polizei und strengere Gesetze braucht. Ein erster Schritt wäre einmal die angekündigte Untersuchungskommission, die die Polizeiarbeit durchleuchten soll. Es gibt sie immer noch nicht.
Die ÖVP forciert jetzt wieder die Sicherungshaft, die sie ins Koalitionsabkommen mit den Grünen schreiben ließ. Das ist eine Art Präventivhaft für Asylwerber, denen man Gefährlichkeit unterstellt, ohne Beweise dafür zu haben. Die Grünen sind dagegen und sprechen von Willkür. Nun wird die Diskussion wiederbelebt. Gerade der Attentäter ist aber ein schlechter Beleg für die Sinnhaftigkeit der Maßnahme: Er wurde in Österreich geboren.
Die SPÖ wiederum fordert, bei bestimmten Tatbeständen leichter die Staatsbürgerschaft entziehen zu können. Im ersten Reflex scheint es logisch, solchen Leuten – die Wiener haben dafür schon die richtige Bezeichnung gefunden – den Pass wegzunehmen. Die gehören nicht zu uns – und wollen das auch gar nicht. Aber möglicherweise schadet es mehr, solche Leute in die Illegalität zu drängen und ihnen jede Teilnahme an unserer Gesellschaft zu verwehren – eine heikle Diskussion, aber auch sie wird zu führen sein.
Bevor die Schrauben gesetzlicher Maßnahmen angezogen werden, ist es aber notwendig, die Polizeiarbeit zu verbessern und aus der politischen Umklammerung herauszulösen. Bevor die Theorie verändert wird, muss die Praxis verbessert werden. Im Namen unserer Sicherheit. Und unserer Freiheit.