Der Standard

Historisch­e Herausford­erungen

Versöhner Joe Biden startet mit ehrenwerte­n Vorsätzen in eine schwierige Zukunft

- Manuela Honsig-Erlenburg

Es fühlte sich an wie ein Zurücktret­en vom Abgrund der Autokratie. Als am Samstagabe­nd Ortszeit Joe Biden und Kamala Harris zu ihren Siegesrede­n vor die Kameras traten, ging ein Seufzer der Erleichter­ung durch das liberale Amerika. Der Zeitenwech­sel, den sich die Trump-Gegner erhofften, er steht bevor. Die Eskalation­sspirale nach unten scheint gestoppt, das Weiße Haus kann endlich – nach vier Jahren der Verachtung für faktenbasi­erte Vernunft – zur Achtung demokratis­cher Prinzipien und Institutio­nen zurückkehr­en. Die Demokratie hat standgehal­ten.

Dieses Wahlergebn­is ist aus mehreren Gründen ein historisch­es: Erstens haben unglaublic­he 145 Millionen US-Amerikaner­innen und US-Amerikaner an diesem Urnengang teilgenomm­en, was der höchsten Wahlbeteil­igung seit dem Jahr 1900 entspricht. Zweitens kommt mit der vitalen Vizepräsid­entin Kamala Harris erstmals eine Frau ans Ruder – und erstmals eine Tochter von Migranten. Ein außerorden­tlich wichtiges und viel zu lange entbehrtes Signal der Hoffnung an marginalis­ierte Gruppen in den Vereinigte­n Staaten, für die Trump nur Verachtung übrig hatte.

Die Botschaft Bidens Samstagnac­ht war dementspre­chend ein wohltuende­r und erwarteter Gegensatz zu Trumps angriffige­n Schimpftir­aden: Es ging um Empathie, Versöhnung, Neubeginn. Und Demut. Eine Demut, die mehr als angebracht ist, denn ein eindeutige­s Mandat des Volkes sieht anders aus. Immerhin hat fast die Hälfte der USA mit ihrer Stimme den Kurs von Präsident Donald Trump legitimier­t. Bei der Wahl seines Kabinetts muss Biden auch das mitbedenke­n, muss eine ausgewogen­e Mischung zwischen links und rechts anpeilen.

Dass ihm das gelingen kann, davon gehen die meisten Beobachter aus, denn schon als Vizepräsid­ent von Barack Obama galt Biden als Inbegriff des erfahrenen Kompromiss­suchers. Gut vernetzt, mit innigen Freundscha­ften zu Republikan­ern wie John McCain, bemühte er sich im Hintergrun­d um überpartei­liche Zusammenar­beit.

Freilich, eine Aufgabe, die nach vier Jahren Trump nicht einfacher geworden ist. Auch weil Biden wohl auf den Komfort verzichten muss, seine Präsidents­chaft mit einer doppelten demokratis­chen Mehrheit in Abgeordnet­enhaus und Senat zu starten.

Die von dem US-Demokraten im Wahlkampf ausgerufen­e „Schlacht um die Seele der Nation“ist jedenfalls noch lange nicht gewonnen. Die vielzitier­te Spaltung der USA wird nicht über Nacht verschwind­en, nur weil Trump nicht mehr am Ruder ist.

Wenn das Duo Biden/Harris im Jänner antritt, steht es außerdem einer Krise gigantisch­en Ausmaßes gegenüber. Die Corona-Pandemie belastet Wirtschaft wie Gesundheit­ssystem. Das gilt erst recht für den Fall, dass der Supreme

Court demnächst den häufig als Obamacare bezeichnet­en Affordable Care Act für verfassung­swidrig erklärt und damit zwölf Millionen Menschen auf einen Schlag ihre Krankenver­sicherung verlieren könnten. Eine verheerend­e Aussicht. Nicht zuletzt deswegen setzte Biden in seiner ersten Handlung nach der Wahl auf die Bekämpfung der Corona-Gesundheit­skrise.

Noch aber ist Trump Präsident der Vereinigte­n Staaten. Und zwar bis 20. Jänner – eine Zeitspanne, in der der Präsident mit dem schlechtes­ten Charakter aller Zeiten noch viel Unruhe stiften kann.

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