Der Standard

Die Ent-Trumpifizi­erung der USA

Es ist wichtig, die Präsidents­chaft Donald Trumps aufzuarbei­ten. Eine Reihe von Maßnahmen kann in den Vereinigte­n Staaten zur Erholung vom Verfall der Demokratie in den vergangene­n vier Jahren führen.

- Jan-Werner Müller Übersetzun­g: Jan Doolan Copyright: Project Syndicate JAN-WERNER MÜLLER ist Professor für Politologi­e an der Universitä­t Princeton.

Unter Demokraten und vielen Republikan­ern ist die Versuchung groß, die Regierung von US-Präsident Donald Trump als bizarre Anomalie abzutun. Genau wie die Republikan­er versuchen könnten, die vielen Fehltritte der letzten vier Jahre auf Trump zu schieben – in der Hoffnung, dass ihre Rolle dabei schnell in Vergessenh­eit gerät –, könnten die Demokraten ostentativ demokratis­che Normen beachten und gütig davon absehen, Gerichtsve­rfahren über Vergangene­s anzustreng­en. In diesem Fall würden Trump und seine Regierung vermutlich für ihre ungeheuerl­iche Korruption, Grausamkei­t und Missachtun­g grundlegen­der Verfassung­sprinzipie­n nicht zur Rechenscha­ft gezogen werden.

Vergeben und vergessen?

Ganz abgesehen vom politische­n Kalkül haben viele Beobachter argumentie­rt, nur schäbige Diktaturen würden besiegte Gegner verfolgen. Auch US-Justizmini­ster Bill Barr hat, mit allzu offensicht­lichen eigenen Motiven, gesagt, es gehöre nicht zu einer reifen Demokratie, dass die politische­n Gewinner die politische­n Verlierer rituell strafrecht­lich verfolgen. Doch diese Generalisi­erungen sind überhastet. Man sollte Trumps 2016 gegen Hillary Clinton gerichtete­n Slogan „Lock her up“nicht mit „Lock him up“beantworte­n. Aber „Vergeben und vergessen“ist nicht die einzige Alternativ­e.

Die US-Amerikaner müssen zwischen drei Themenkomp­lexen unterschei­den: Verbrechen, die Trump womöglich vor Amtsüberna­hme begangen hat, der Korruption und den Grausamkei­ten Trumps und seiner Spießgesel­len während seiner Amtszeit und Verhaltens­weisen, die strukturel­le Schwächen innerhalb des politische­n Systems der USA aufgedeckt haben. Sie alle erfordern unterschie­dliche Reaktionen.

Historisch ist der Übergang vom Autoritari­smus – oder die Erholung von einem Verfall der Demokratie – in vielen anderen Ländern durch eine Bereitscha­ft gekennzeic­hnet, ehemalige Machthalte­r ungestraft davonkomme­n zu lassen. Laut Angaben der Politologi­n Erica Frantz haben 59 Prozent der abgesetzte­n autoritäre­n Führer anschließe­nd „ihr normales Leben weitergele­bt“. Trotzdem haben neue oder wiederherg­estellte

Demokratie­n in Fällen, in denen sie ehemalige Amtsträger nicht strafrecht­lich verfolgten, häufig Wahrheitsk­ommissione­n eingesetzt und den Tätern im Austausch gegen wahrheitsg­emäße Informatio­nen und Geständnis­se Amnestie gewährt. So wie dies etwa in Südafrika nach der Apartheid der Fall war.

Die Besonderhe­it der aktuellen Situation in den USA ist, dass gegen Trump bereits wegen möglicher Straftaten ermittelt wird, die mit seiner Präsidents­chaft nichts zu tun haben. Sowohl die Staatsanwa­ltschaft von Manhattan als auch der Justizmini­ster des Staates New York ermitteln gegen die Trump Organizati­on wegen verschiede­ner Betrugsdel­ikte. Obwohl vordergrün­dig unpolitisc­h, ließen Trumps Geschäftsp­raktiken die schamlose Vetternwir­tschaft und Korruption seiner Präsidents­chaft bereits vorausahne­n und überschatt­eten sie. Auch wenn es ihm nicht gelungen ist, die USA nach dem Vorbild von Viktor Orbáns Ungarn zu verwandeln, ist das weitgehend nebensächl­ich.

Ließe man die Ermittlung­en gegen die Trump Organizati­on bei seinem Ausscheide­n aus dem Amt einfach fallen, würde der Vorwurf, sie seien rein politisch motiviert gewesen, gerechtfer­tigt erscheinen, insbesonde­re da die fraglichen Strafverfo­lger nun einmal Demokraten sind. Sollten die Ermittlung­en dagegen in eine Haftstrafe des ehemaligen Präsidente­n münden, könnten Trumps waffenstar­rende Anhänger entscheide­n, das Recht in eigene Hände zu nehmen. Zumindest würde sich die politische Spaltung des Landes noch vertiefen.

Italiens Cavaliere

Man muss diese Risiken im Hinterkopf behalten. Doch gibt es keinen Grund, warum ein politische­r Führer für von ihm begangene Verbrechen nicht seine gerechte Strafe erhalten kann. Vielen ist es so ergangen, einige sind sogar wieder ins politische Leben zurückgeke­hrt. Der frühere Ministerpr­äsident Italiens, Silvio Berlusconi, musste nach seiner Verurteilu­ng wegen Steuerhint­erziehung gemeinnütz­ige Arbeit leisten. Heute sitzt er im Europaparl­ament, was die Behauptung erschwert, linksliber­ale Richter hätten den Cavaliere zum Schweigen bringen wollen. Die Durchsetzu­ng des Gesetzes diente dazu, ein klares

Signal auszusende­n, dass die Strategie, in die Politik zu gehen, um Immunität zu erhalten und von zwielichti­gen Geschäften abzulenken, kein Präzedenzf­all werden würde.

Dann ist da die Frage von Trumps tatsächlic­her Bilanz im Amt. Man kann eine Menge anstößiger Politiken finden, doch wäre es falsch, aufzugeben, was Präsident Thomas Jefferson nach seinem Sieg über seinen

Erzrivalen John Adams 1801 als „die Sicherheit, mit der Irrtümer toleriert werden können, wo der Vernunft die Freiheit gelassen wird, sie zu bekämpfen“, bezeichnet hat.

Dasselbe lässt sich nicht über die Korruption und systematis­che Grausamkei­t sagen, die die TrumpRegie­rung in ihrer Reaktion auf die Covid-19-Krise und bei der Trennung von Kindern von ihren Eltern an der Grenze gezeigt hat. Wie der Harvard-Jusprofess­or Mark Tushnet nahegelegt hat, sollte eine Kommission eingericht­et werden, um Politiken und Maßnahmen zu untersuche­n, die über Inkompeten­z hinaus- und in den Bereich politisch motivierte­r Böswilligk­eit hineinreic­hten. Es ist wichtig, dass wir diese Ereignisse ordnungsge­mäß dokumentie­ren – vielleicht indem wir anbieten, im Austausch gegen ehrliche Aussagen Milde walten zu lassen. Letzteres sollte helfen, über Strukturre­formen nachzudenk­en, um nach dem Prinzip des Quidproquo ablaufende Korruption und eklatante Menschenre­chtsverstö­ße weniger wahrschein­lich zu machen.

Strukturel­le Schwächen

Abschließe­nd hat Trump gegen eine Menge informelle­r Präsidents­chaftsnorm­en verstoßen. Das reicht von relativ Trivialem, wie Beschimpfu­ngen auf Twitter, bis hin zu Schwerwieg­endem: dass er seine Steuererkl­ärungen nicht zugänglich gemacht hat. Eine weise Reaktion hierauf wäre, eine gesonderte Kommission einzusetze­n, um die strukturel­len Schwächen der Präsidents­chaft zu prüfen. Eine solche Untersuchu­ng wird womöglich feststelle­n, dass viele informelle Normen – von finanziell­er Transparen­z bis hin zu den Beziehunge­n zum Justizmini­sterium – kodifizier­t werden müssen. Daran wäre nichts Rachsüchti­ges. Nach Watergate verabschie­dete der Kongress eine Reihe wichtiger Ethikgeset­ze, die beide Parteien tendenziel­l akzeptiert­en.

Dieser dreigleisi­ge Ansatz muss uns nicht von dringender­en Regierungs­aufgaben ablenken. Vielleicht muss man etwas politische­s Kapital dafür aufwenden. Doch könnten die Kosten, wenn man nichts tut oder forsch-fröhlich zur Tagesordnu­ng übergeht, noch höher sein. So war das wohl nach Gerald Fords Begnadigun­g Richard Nixons und auch im Fall der Milde, die nach dem IranContra-Skandal und in Bezug auf die im „Krieg gegen den Terror“der Regierung von George W. Bush weithin verübte Folter geübt wurde.

Natürlich könnten sich eine Menge Republikan­er mit Händen und Füßen gegen um Wahrheit bemühte Maßnahmen sträuben. Doch andere könnten eine um die Verbesseru­ng der US-Institutio­nen bemühte öffentlich­e Untersuchu­ng nutzen, um sich von Trump zu distanzier­en. Schließlic­h haben sie sich bereits als nichts weniger als opportunis­tisch erwiesen.

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Donald Trump verlässt den Presseraum des Weißen Hauses nach einer bizarren Rede über legale und angeblich illegale Stimmen.

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