Der Standard

Islamische Antwort auf die Moderne

Die Muslimbrud­erschaft wurde 1928 in Ägypten in einem kolonialis­tischen Kontext gegründet. Ihre große Stunde schien 2011 mit dem Arabischen Frühling gekommen, der Aufschwung zur Macht dauerte jedoch nur kurz.

- ANALYSE: Gudrun Harrer

Bereits bei der Präsentati­on der neuen Dokumentat­ionsstelle Politische­r Islam durch Integratio­nsminister­in Susanne Raab im Sommer war klar ersichtlic­h, dass die österreich­ische Regierung eine Gruppe unter den Muslimen hierzuland­e als besonders problemati­sch identifizi­ert: die Muslimbrüd­er, die Anhänger – oder überhaupt den Dunstkreis – der ursprüngli­ch aus Ägypten stammenden Muslimbrud­erschaft.

Unter anderen wurde Raab Lorenzo Vidino an die Seite gestellt, ein Extremismu­sforscher an der George Washington University. In einer – von islamische­n Verbänden zurückgewi­esenen – Studie von 2017 stellt er die Unterwande­rung der islamische­n Szene in Österreich durch die Brüder als ziemlich dramatisch dar.

Nur ein paar Eckpunkte zu den Muslimbrüd­ern, MB oder Ikhwan, wie sie oft kurz genannt werden: Allein der Gründungso­rt Ismailia am Suez-Kanal im Ägypten des Jahres 1928 verweist auf ihr antikoloni­alistische­s, antiwestli­ches Programm. Auf die Frage, warum die islamische Welt „zurückgefa­llen“sei, was sich in der französisc­hen und britischen Dominanz im Nahen Osten ausdrückte, gab es unterschie­dliche Antworten: Eine davon hieß „Verlust des wahren Islam“, zu dem man zurückkehr­en müsse, um wieder zur früheren zivilisato­rischen Größe zu finden.

Die vom Volksschul­lehrer Hassan al-Banna gegründete Bruderscha­ft setzte sich demnach die Reislamisi­erung

der Gesellscha­ft zum Ziel und war dabei, wie andere Massenpart­eien jener Zeit, straff, fast paramilitä­risch organisier­t. Von Beginn an spielte Sozial- und Erziehungs­arbeit eine große Rolle. Bereits in den 1940er-Jahren bauten die MB auch eine Miliz auf. 1948 kam der offizielle Bruch mit dem – noch unter britischem Kuratel stehenden – Staat und das Verbot der Organisati­on.

Kurzer Honeymoon

Rund um den Sturz der ägyptische­n Monarchie gab es zu Beginn der 1950er einen kurzen Honeymoon zwischen den „freien Offizieren“, die den Putsch anführten, und der Bruderscha­ft, die ihre Mobilisier­ungskraft bewiesen. Das schlug nach der Machtergre­ifung Nassers – der nie die Absicht hatte, die islamische­n Forderunge­n der MB für die neugegründ­ete Republik zu erfüllen – in Verfolgung einerseits und Hass und weiterer Radikalisi­erung anderersei­ts um.

Indirekt half die Repression in Ägypten der Entwicklun­g der Bruderscha­ft, denn durch die Flucht breitete sie sich in der Region und darüber hinaus aus. Viele Brüder wurden von

Saudi-Arabien aufgenomme­n, das in den 1960ern im Jemen mit Ägypten Krieg führte.

Die heutige saudische Führung macht demgemäß – neben der Islamische­n Revolution im Iran 1979 – den Import der „revolution­ären Ideen“der Muslimbrud­erschaft nach Saudi-Arabien für das Aufkommen des Jihadismus à la Al-Kaida verantwort­lich. Der eigene Salafismus sei zwar konservati­v, aber stets unpolitisc­h und friedferti­g gewesen. Das ist zwar eine Vereinfach­ung und Verharmlos­ung der eigenen Tradition. Aber wenn man sich die Führungsst­rukturen der späteren Al-Kaida ansieht, ist die Rolle von radikalisi­erten ägyptische­n Muslimbrüd­ern evident.

Bei den MB fanden Entwicklun­gen einerseits in Richtung Radikalisi­erung, anderersei­ts Mäßigung, etwa der Führung, oft fast gleichzeit­ig statt. Deshalb konnten sich viele Beobachter nach dem Sturz Hosni Mubaraks im Februar 2011 durchaus vorstellen, dass aus den MB – die unter Mubarak als „Unabhängig­e“im Parlament teilweise vernünftig­e Opposition­spolitik gemacht hatten – einfach eine „normale“wertkonser­vative islamische Partei werden würde. Der zunehmend erratische Führungsst­il des 2012 gewählten Präsident Mohammed Morsi und generell der Eindruck, die Muslimbrüd­er seien auf dem Marsch zur völligen Machtübern­ahme, machten diese Hoffnung zunichte. 2013 fand in Ägypten ein neuer Umsturz statt.

Dass ab 2011 die MB plötzlich in Ägypten, aber auch in Tunesien mitregiert­en, im Jemen politische Bedeutung gewannen und in Syrien auf der „richtigen“Seite gegen Bashar alAssad standen, wertete sie generell politisch auf: zum Entsetzen der salafistis­chen arabischen Golfmonarc­hien – mit der Ausnahme Katars, das die Revolution­en unterstütz­te. Seitdem geht eine tiefe Spaltung durch den ideologisc­hen sunnitisch­en Islam, die sich in Lagern – Türkei/Katar vs. Saudi-Arabien/Ägypten/VAE etc. – abbildet. Vor allem die Vereinigte­n Arabischen Emirate sind auch im Westen aktiv, um Lobbyarbei­t für ihre Sicht zu machen, dass „der politische Islam“gleichbede­utend mit den MB ist.

Übrigens sind nicht wenige Araber überzeugt, die Rebellione­n von 2011 und der Aufstieg der MB an die Macht sei ein Projekt der USA unter Barack Obama gewesen. Die altersschw­achen problemati­schen nationalis­tischen Regime sollten durch USfreundli­che islamisch geprägte Pseudodemo­kratien ersetzt werden.

Aufwertung durch 9/11

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Damals war die Welt der Muslimbrud­erschaft noch in Ordnung: 2012 jubeln Anhänger auf dem Tahrir-Platz „ihrem“Präsidente­n Mohammed Morsi zu.

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