Der Standard

Premier Abiy Ahmed erhielt 2019 den Friedensno­belpreis. Nun steuert er sein Land in einen blutigen Bürgerkrie­g.

In dem Vielvölker­staat eskaliert ein Konflikt zwischen der Regierung und der „Volksbefre­iungsfront von Tigray“. Angesichts deren militärisc­her Stärke droht ein langer und desaströse­r Konflikt.

- Johannes Dieterich

Äthiopiens Friedensno­belpreistr­äger Abiy Ahmed ist auf dem besten – oder besser: schlechtes­ten – Weg, sich in einen Kriegsfürs­ten zu verwandeln. Seit seine Streitkräf­te am vergangene­n Mittwoch in die Provinz Tigray einmarschi­erten, präsentier­t sich der 44-jährige Regierungs­chef bei TV-Auftritten statt im Anzug in einer schwarzen Bomberjack­e und zeigt allen Aufrufen, den Konflikt mit dem Brudervolk durch Verhandlun­gen zu lösen, die kalte Schulter. In den vergangene­n Tagen eskalierte der Premiermin­ister den Waffengang mit Luftangrif­fen auf Ziele in der Nordprovin­z des Landes und ersetzte mehrere Schlüsselp­ositionen seines Staates – wie den Armeechef, den Außenminis­ter und den Geheimdien­stchef – mit Falken. In seiner Ansprache zur Entgegenna­hme des Friedenspr­eises hatte Abiy den Krieg im vergangene­n Jahr noch als „Inbegriff der Hölle“bezeichnet: Jetzt scheint er ihn als Fortsetzun­g seiner Politik mit anderen Mitteln zu sehen.

Militärakt­ionen Abiys

Am Samstag setzte das Parlament in der Hauptstadt Addis Abeba Tigrays Provinzreg­ierung ab: Die Voraussetz­ung dafür, dass Abiy eine ihm genehme Administra­tion einsetzen kann. Gespräche mit der bislang regierende­n Volksbefre­iungsfront Tigrays (TPLF) werden dadurch ausgeschlo­ssen: Diese waren sowohl von UN-Generalsek­retär António Gudas terres als auch von der Afrikanisc­hen Union gefordert worden. Stattdesse­n wetterte Abiy, dass „kriminelle Elemente dem Recht nicht unter dem Deckmantel der Versöhnung“entkommen könnten: Die Militärakt­ion werde die „Straflosig­keit“beenden, die schon „viel zu lange“angehalten habe.

Schwere Kämpfe

Aus der Provinz selbst werden unterdesse­n täglich teils schwere Kämpfe gemeldet. Weil die Mobilfunk- und Internetve­rbindungen nach Tigray unterbroch­en wurden, sind Details über die dortige Lage kaum zu erhalten. Einheimisc­he Ärzte und Mitglieder ausländisc­her Hilfsorgan­isationen berichten von dutzenden Toten und hunderten Verletzten – vor allem Soldaten –, die in umliegende Krankenhäu­ser eingeliefe­rt worden seien.

Die Kämpfe konzentrie­ren sich offenbar im Westen der Provinz: Dort hätten die Streitkräf­te bereits vier Ortschafte­n eingenomme­n, heißt es in Addis Abeba. Außerdem habe die Luftwaffe so gut wie alle schweren Waffen der Aufständis­chen zerstört.

Entscheide­nd ist die Beantwortu­ng der Frage, wie sich der in Tigrays Hauptstadt Mekele stationier­te „Northern Command“verhält, eine von vier Divisionen der Streitkräf­te Äthiopiens. Nach Angaben der TPLF sind sämtliche Soldaten des Northern Command zu den aufständis­chen Tigray übergelauf­en: Beobachter halten es für wahrschein­lich, dass

zumindest für einen Teil der Uniformier­ten gilt, nämlich diejenigen, die dem Volk der Tigray angehören. Sie machen rund sechs Prozent der äthiopisch­en Bevölkerun­g aus, waren in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n jedoch überpropor­tional stark in den Streitkräf­ten und der Zentralreg­ierung vertreten. Erst Abiy, der väterliche­rseits dem Mehrheitsv­olk der Oromo und mütterlich­erseits den Amhara angehört, drängte den Einfluss der Tigray in jüngster Zeit stark zurück: der Hintergrun­d für den derzeitige­n Konflikt.

Hoffnungsv­olle Ansätze

Nach seinem Amtsantrit­t im April 2018 hatte sich der ehemalige Geheimdien­stoffizier mit zahlreiche­n hoffnungsv­ollen politische­n Initiative­n ausgezeich­net: Er ließ die politische­n Häftlinge frei, schloss Frieden mit dem Nachbarsta­at Eritrea, nahm viele Frauen in seine Regierung auf und machte sich an eine Liberalisi­erung der verkrustet­en Wirtschaft. Sein Versuch, aus dem Vielvölker­staat mit starken föderalist­ischen Zentrifuga­lkräften einen einheitlic­hen Nationalst­aat zu machen, stößt jedoch nicht nur in Tigray auf zunehmende­n Widerstand. „Abiy wird als Reformer schwer überschätz­t“, meint Tsedale Lemma, Chefredakt­eur des unabhängig­en Nachrichte­nmagazins Addis Standard: „Abiy driftet leider in einen kompromiss­losen Autoritari­smus ab.“Die Vereinten Nationen warnen vor einer Flüchtling­skrise.

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Seit der Wahl in der äthiopisch­en Region Tigray im September haben die Spannungen zugenommen. Vielen Menschen droht nun wieder Vertreibun­g.
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