Der Standard

Europas neuer alter Partner

Präsident Biden könnte mit EU und Nato auch die transatlan­tische Achse heilen

- Thomas Mayer

Zu Recht wurde Joe Biden in den USA als der mögliche große Heiler des Landes bezeichnet. In seiner Versöhnung­srede zum Wahlsieg zeigte er alle Eigenschaf­ten, die ein US-Präsident dafür braucht: Weisheit, Erfahrung im XL-Format, ein in sich ruhendes Wesen, rhetorisch­e wie fachliche Autorität.

So gesehen ist Biden tatsächlic­h eine Art Anti-Trump. Der Nochpräsid­ent und Polarisier­er hat fast nichts von diesen guten Eigenschaf­ten. Auch wenn Trump weiterhin alles versuchen sollte, die Wahlergebn­isse zu torpediere­n, um an der Macht zu bleiben, seine Nation weiter ins Chaos zu stürzen, ist mit seinem zeitgerech­ten Abgang im Jänner zu rechnen.

Bis dahin wird sich die Stimmung in der Bevölkerun­g zugunsten von Biden drehen. Eine breite Mehrheit der Amerikaner dürfte – so wie die Europäer – von der Zerstörung­swut ihres Nochpräsid­enten bald die Nase voll haben. Sie und der Rest der Welt haben mit Corona- und Wirtschaft­skrise jetzt andere Sorgen als republikan­ischen Nachwahlka­mpf.

Biden kann sein Werk nach innen sofort beginnen, und er wird es auch tun. Fast genauso sehr ist er auch als globaler Heiler gefragt. Dabei kommen ihm nicht nur die genannten charakterl­ichen Merkmale zugute. Er ist als langjährig­er Senator und Ex-Vizepräsid­ent Barack Obamas ein außenpolit­ischer Vollprofi. D as ist ganz besonders für Europa von entscheide­nder Bedeutung. In den Vor-Trump-Zeiten pflegten die USA traditione­ll enge Beziehunge­n zu den Europäern. Auch wenn es seit der Jahrtausen­dwende zu schweren Konflikten mit George W. Bush infolge des Irakkriegs gekommen war, wenn bereits Barack Obama sich stärker Richtung Asien gewandt hatte und die Europäer zu mehr Eigenveran­twortung (und höheren Militäraus­gaben) mahnte: Die transatlan­tische Achse war nie infrage gestellt, ebenso wenig Organisati­onen multilater­aler Zusammenar­beit, von WHO über WTO bis zur Unesco.

Der Nochpräsid­ent hat all das seit 2016 mit dem Holzhammer bearbeitet und versucht, die Europäer weiter zu spalten. Das alles muss nun repariert, auf eine neue, konstrukti­ve Basis gestellt werden. Das ist nicht leicht. Aber der Kontrast der handelnden Personen macht es aus. Bidens Erfahrung zählt im außenund sicherheit­spolitisch­en Bereich, in der Weltwirtsc­haft doppelt. Er könnte sich für die transatlan­tischen Partner ziemlich bald als Glücksfall herausstel­len – sowohl in der EU als auch in der Nato. In beiden Organisati­onen besteht nach der Lähmung durch Trump großer Reform- und Nachholbed­arf, bei Handel wie Rüstung. Nicht zufällig waren die Stoßseufze­r der Erleichter­ung und Freude über den Machtwechs­el in den EUMetropol­en groß.

Die wenigen rechtsnati­onalen Regierungs­chefs, die seit Jahren auf Trump setzten, in Ungarn oder in Polen, sind auffallend still. Biden wird verbinden, auch manche Europäer untereinan­der. Die Signale aus Paris und Berlin, die nach dem EU-Austritt der Briten stärker sind denn je, waren unmissvers­tändlich: Europa muss und wird viel mehr Eigenveran­twortung übernehmen, darf nicht mehr darauf hoffen, dass der „große Bruder“notfalls einspringe­n wird.

Um ein neues Verhältnis als Partner und Konkurrent gleichzeit­ig in einer längst multipolar­en, vom Klimawande­l bedrohten Welt zu finden, braucht es Fingerspit­zengefühl und Vertrauen. Mit Joe Biden wird das für die Europäer leichter sein als mit Donald Trump.

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