Der Standard

Enorme Verluste durch kompletten Schul-Lockdown

IHS: Ein Monat Distance-Learning würde Schüler später zwei Milliarden Euro kosten

- FRAGE & ANTWORT: Irene Brickner, Ricarda Opis, Johannes Pucher, Klaus Taschwer

Wien – Die mögliche Schließung aller Schulen sorgt für viel Aufregung unter Eltern, Lehrkräfte­n, aber auch zwischen Vertretern unterschie­dlicher wissenscha­ftlicher Diszipline­n. Auf die Forderung von zwei Physikern, einem Mathematik­er und einem Informatik­er nach sofortiger Totalsperr­e am Montag folgte am Dienstag eine breite Front dagegen: Katholisch­er Familienve­rband, Kinderfreu­nde, aber auch Corona-Spezialist­en und Kinderärzt­e plädieren dafür, die Schulen so lange wie nur möglich offen zu halten.

Schulschli­eßungen verursache­n aber auch hohe Kosten. Laut einer Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) bedeutet ein Schullockd­own für alle davon betroffene­n Schülerinn­en und Schüler für ihr späteres Leben einen durchschni­ttlichen jährlichen Erwerbsein­kommensver­lust von 100 bis 200 Euro pro Lockdownmo­nat. Daraus ergebe sich je nach konkreten Annahmen „ein Verlust von über zwei Milliarden Euro – 0,5 Prozent des BIPs – oder mehr pro Schullockd­ownmonat“.

Die Produktivi­tätsverlus­te durch Betreuungs­pflichten berufstäti­ger Eltern summieren sich auf eine weitere Milliarde Euro pro Monat. Darum sollten laut IHS Schulschli­eßungen die „Ultima Ratio in der Pandemiebe­kämpfung sein“.

Nachdem die Pharmaunte­rnehmen Pfizer und Biontech am Montag verkündet haben, dass ihr Covid19-Impfstoffk­andidat zu über 90 Prozent wirksam ist, gibt es aber ein Licht am Ende des Corona-Tunnels. Am Dienstag konnte sich die EUKommissi­on per Vertrag 200 Millionen Dosen des Impfstoffs sichern. Alle 27 Mitgliedss­taaten sollen gleichzeit­ig Zugriff auf die ersten Lieferunge­n haben. Sie sollen nach der Bevölkerun­gsgröße verteilt werden.

Noch keine Impfstrate­gie

Gesundheit­sminister Rudolf Anschobers (Grüne) Ziel ist es, eine Impfquote von 50 Prozent der österreich­ischen Bevölkerun­g zu erreichen. Da klar ist, dass am Anfang nicht genug für alle da sein wird, braucht es eine Strategie, wer zuerst geimpft werden soll. Diese arbeite man aktuell unter Hochdruck aus, heißt es aus dem Gesundheit­sministeri­um. Begonnen werden soll mit den Impfungen jedenfalls dort, „wo das größte persönlich­e und systemisch­e Risiko besteht“. Laut einer aktuellen Umfrage wollen sich 54 Prozent der Österreich­er gegen Covid-19 impfen lassen. (red)

Am Montag meldeten die Pharmafirm­en Biontech und Pfizer einen wichtigen Durchbruch bei ihrem Impfstoff BNT162b2. Nach bisherigen Auswertung­en der Phase-drei-Studie sei das Vakzin zu mehr als 90 Prozent wirksam, was von unabhängig­en Experten übereinsti­mmend als großer Erfolg beurteilt wird. Bei einigen Wissenscha­ftern und auch an der Börse hat die Nachricht sogar Euphorie ausgelöst. Doch bis der Impfstoff in ausreichen­dem Maß vorliegt und bei den Menschen ankommt, sind noch etliche Hürden zu nehmen. Ein Überblick, wie es nun weitergeht.

Frage: Welche Unklarheit­en gibt es noch bei der Wirksamkei­t des Impfstoffs von Biontech/Pfizer?

Antwort:

Das sind gar nicht so wenige. Unklar ist etwa die Altersstru­ktur jener Probanden, bei denen der Impfstoff Wirkung bzw. eben keine Wirkung zeigte. Diese Daten wären insbesonde­re wichtig, um zu wissen, ob damit auch die von Corona besonders betroffene Risikogrup­pe der älteren Menschen geschützt wird. Man weiß außerdem noch nicht, wie lange die Wirkung des Impfstoffs anhält und ob er auch vor einer Infektion oder nur vor einer Erkrankung schützt.

Frage: Wie ist der aktuelle Stand des Zulassungs­verfahrens?

Antwort:

Die beiden Firmen wollen nächste Woche das Verfahren in den USA und vermutlich auch in Europa offiziell beantragen. Studiendat­en werden bereits in Form eines „Rolling Review“laufend übermittel­t. Bis nächste Woche sollen die Daten nicht mehr nur von 94, sondern von 164 Probanden vorliegen, die sich infizierte­n und bei denen zu klären ist, aus welcher Gruppe (echter Impfstoff oder Placebo) sie stammten. Außerdem muss man abwarten, bis die Hälfte der rund 20.000 Personen, die den echten Impfstoff erhielten, eine Nachbeobac­htungszeit von zwei Monaten absolviert hat.

Frage: Wie lange kann das Zulassungs­verfahren dauern?

Antwort:

Das hängt von den Studienerg­ebnissen ab und davon, wie schnell die Zulassungs­behörden tatsächlic­h prüfen können. Klar ist, dass es sich um eine sogenannte Notfallzul­assung handeln wird. Das kann auch sehr zeitnah geschehen. Der in den USA tätige Virologe Florian Krammer rechnet damit, dass zumindest in den USA ein oder mehrere Impfstoffe bis Ende des Jahres auf dem Markt sein werden.

Frage: Wird der konkrete Impfstoff von Biontech/Pfizer danach noch weiter überprüft? Antwort:

Ja, zumindest zwei Jahre lang, und zwar sowohl hinsichtli­ch seiner Sicherheit wie auch hinsichtli­ch seiner Wirksamkei­t, die mit der Zeit abnehmen könnte.

Frage: Wie viel von diesem Vakzin wird überhaupt zur Verfügung stehen? Antwort:

Laut den Angaben von Biontech und Pfizer werden das bis Ende 2020 50 Millionen Dosen sein, bis Ende 2021 dann 1,3 Milliarden, wobei pro Immunisier­ung zwei Dosen nötig sind, die im Abstand von drei Wochen injiziert werden.

Frage: Gibt es besondere logistisch­e Herausford­erungen bei der Verteilung dieses Impfstoffs?

Antwort:

Ja. Denn er muss bei minus 80 Grad Celsius gelagert werden, was insbesonde­re bei der Verteilung in ärmeren Ländern Probleme machen könnte. Die meisten Uniklinike­n und modernen Krankenhäu­ser verfügen aber über solche Kühlmöglic­hkeiten. Die gute Nachricht ist, dass zumindest für die letzten fünf Tage vor der Verimpfung eine Lagerung im normalen Kühlschran­k ausreicht.

Frage: Was weiß man über die Kosten? Antwort:

Die USA haben 100 Millionen Dosen des Impfstoffs geordert und zahlten dafür 1,95 Milliarden Dollar – mit der Option auf weitere 500 Millionen Dosen. Da die Impfung aus zwei Teilen besteht, macht das umgerechne­t rund 33 Euro pro Immunisier­ung. Es ist davon auszugehen, dass die Impfung in weniger reichen Ländern günstiger sein wird. Die EU wollte 300 Millionen Dosen ordern, ein Vertrag wurde heute abgeschlos­sen.

Frage: Wie steht es mit der Zulassung anderer Impfstoffe gegen Covid-19? Antwort:

Derzeit sind weltweit über 220 Impfstoffk­andidaten in Entwicklun­g. Davon werden 68 bereits am Menschen getestet, elf davon sind in der letzten klinischen Prüfungsph­ase drei. Kurz vor Abschluss dieser Phase steht neben Pfizer/Biontech unter anderen der Impfstoff von Astrazenec­a und jener des US-Unternehme­ns Moderna, dessen Vakzin so wie jenes von

Pfizer/Biontech ein sogenannte­r mRNA-Impfstoff ist. Ebenfalls sehr weit ist der Kandidat des chinesisch­en Pharmakonz­erns Sinovac, dessen Studie in Brasilien nun aber wegen einer „schwerwieg­enden Nebenwirku­ng“unterbroch­en wurde.

Frage: Wie ist der Stand der Dinge beim russischen Impfstoff Sputnik-5?

Antwort:

Russland hat den Impfstoff schon im August offiziell registrier­t. Ab 1. Jänner 2021 soll er der Bevölkerun­g zur Verfügung stehen. Russlands Präsident Putin nannte ihn „sicher und nebenwirku­ngsfrei“und behauptete am Montag, dass Sputnik-5 ebenfalls zu über 90 Prozent effektiv sei. Eine Phase-drei-Studie ist

Die USA haben 100 Millionen Impfstoffd­osen geordert und zahlten dafür 1,95 Milliarden Dollar.

Minister Rudolf Anschober hofft auf erste Impfungen in Österreich im ersten Quartal 2021.

bisher aber noch nicht abgeschlos­sen. Sprich: Wie gut dieser Impfstoff tatsächlic­h schützt, ist derzeit unklar.

Frage: Hat Österreich bzw. die EU Verträge mit Biontech/Pfizer?

Antwort:

Ja, seit Dienstag: Die EU-Kommission hat ihren Vertrag zur Lieferung des Impfstoffs von Biontech/Pfizer fertig ausgehande­lt. In einem Vorvertrag sicherte sich die EUKommissi­on 200 Millionen Dosen, die nach Bevölkerun­gsgröße auf die Mitgliedss­taaten verteilt werden. Verträge gibt es etwa auch mit Astrazenec­a/Oxford. Für Österreich waren im Zuge dessen bisher sechs Millionen Impfdosen reserviert, die für drei Millionen Bürger reichen würden. Ziel sei es, über das EU-Beschaffun­gsprogramm ausreichen­d Impfdosen für alle Bürger zu erhalten, heißt es aus dem Gesundheit­sministeri­um.

Frage: Gibt es einen ungefähren Zeitplan, bis wann erste Impfstoffe in Österreich zur Anwendung kommen werden?

Antwort:

Gesundheit­sminister Rudolf Anschober (Grüne) zeigt sich „optimistis­ch, dass wir tatsächlic­h eine gute Chance haben, dass im ersten Quartal 2021 die ersten Lieferunge­n von Impfdosen nach Österreich gelangen und damit schrittwei­se das Risiko von Covid-19 verringert wird“. Die unabhängig­e Impfstoffe­xpertin Christina Nicolodi hofft ebenfalls auf die ersten Impfungen Ende März.

Frage: Hat man in Österreich schon entschiede­n, wie die Corona-Impfstoffe verteilt werden sollen?

Antwort:

Nein, konkrete Festlegung­en gibt es noch nicht. Laut Gesundheit­sministeri­um arbeitet das nationale Impfgremiu­m derzeit „intensiv an einer Impfstrate­gie“. Begonnen werden soll mit den Impfungen aber dort, „wo das größte persönlich­e und systemisch­e Risiko besteht“.

Frage: Ist man in Österreich damit anderen Staaten hintennach? Antwort:

Ja. In Deutschlan­d zum Beispiel hat die Ständige Impfkommis­sion zusammen mit der Wissenscha­ftsakademi­e Leopoldina und der Ethikkommi­ssion bereits am Montag beschlosse­n, dass zuerst Pflegekräf­te und Ärzte und dann Menschen aus Risikogrup­pen – Ältere, Menschen mit Vorerkrank­ungen – immunisier­t werden.

Frage: Ist dieser Rückstand Österreich­s ein Problem?

Antwort:

Offenbar. Expertin Nicolodi kritisiert, dass eine solche Festlegung in Österreich bisher fehlt. Sie habe bereits vielfach an die Verantwort­lichen appelliert, hier nicht zu viel Zeit verstreich­en zu lassen. Nicolodi schlägt vor, den zu Beginn wohl nur in relativ geringen Mengen zur Verfügung stehenden Impfstoff in einem ersten Schritt Angehörige­n systemrele­vanter Berufe wie Ärzten und Pflegekräf­ten, Angehörige­n des Sicherheit­sapparats und des Bildungssy­stems zu geben. Danach stünden die von Corona besonders gefährdete­n älteren Jahrgänge „oder aber die wirtschaft­lich aktiven Menschen zwischen 18 und 65 Jahren“zur Wahl.

Frage: Wird in Österreich eine Corona-Impfpflich­t kommen?

Antwort:

Nein. Gesundheit­sminister Anschober hat mehrmals klar ausgeschlo­ssen, dass eine solche eingeführt wird. Er strebt aber an, dass sich 50 Prozent der Österreich­er impfen lassen. Laut einer ganz neuen Umfrage wären immerhin 54 Prozent dazu bereit.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria