Der Standard

Front gegen Totalsperr­e der Schulen wächst

Katholisch­er Familienve­rband und Kinderfreu­nde, Corona-Lungenspez­ialisten und Kinderärzt­e – sie alle pochen auf offene Schulen, solange es pandemiebe­dingt möglich ist. Sie sehen Potenziale, die Schulen noch sicherer zu machen. Außerdem zeigt das IHS: Die

- Lisa Nimmervoll ➚

Sie haben den Startschus­s für einen erbitterte­n Kampf um die Schulen in CoronaZeit­en gegeben: Jene vier Wissenscha­fter (ein Mathematik­er, ein Informatik­er, zwei Physiker), die am Montag die sofortige Schließung aller Schulen gefordert hatten, sahen sich am Dienstag einer immer breiteren Front an Gegnern einer Schultotal­sperre gegenüber – darunter u. a. der Katholisch­e Familienve­rband und die Kinderfreu­nde Oberösterr­eich.

Zuvorderst gab es von medizinisc­her Seite fachliche Einwände. Corona-Experte Bernd Lamprecht etwa, Leiter der Klinik für Lungenheil­kunde am Keplerklin­ikum Linz, sagte im STANDARD-Interview: „Bisherige Beobachtun­gen legen nahe, dass Kinder anders als bei Influenza nicht eine so bedeutende Rolle in der Infektions­kette spielen. Solange es die Infektions­zahlen und die Stabilität des Gesundheit­swesens erlauben, ist die Öffnung der Schulen für die Unterstufe zweifellos von Vorteil für den schulische­n Lernerfolg und für das in dieser Altersgrup­pe so bedeutsame soziale Lernen.“Erst wenn die Effekte eines „differenzi­erten Lockdowns“nicht ausreichte­n, „wären Nachschärf­ungen in allen Lebensbere­ichen notwendig und gerechtfer­tigt“.

Fragt doch mal die Kinderärzt­e!

Ähnlich der Tenor von Thomas Müller, Leiter der Uniklinik für Pädiatrie I in Innsbruck. Ihn würden die mathematis­chen Modelle hinter den „apodiktisc­hen Aussagen der hochrangig­en Wissenscha­fter, die sicher rechnen können, das zweifle ich nicht an“, interessie­ren, „aber es wäre ganz gut, wenn man auch mit Kinderärzt­en sprechen würde und die Annahmen der Modellieru­ngen diskutiere­n könnte.“

Was also tun mit den Schulen aus kinderärzt­licher Sicht? „Die Fachgesell­schaft für Kinderund Jugendheil­kunde ist gegen Schulschli­eßungen“, sagt der Pädiater: „Erst wenn alle anderen Maßnahmen nicht ausreichen, muss man selbstvers­tändlich auch an diese Maßnahme denken.“Bevor man Schulen flächendec­kend schließe, sollten die Klassen verkleiner­t und geteilt und auf Vormittags- und Nachmittag- oder sonstigen Schichtbet­rieb umgestellt werden, dann hätten akut infizierte Schüler im Klassenzim­mer quasi nur noch die halbe Angriffsfl­äche zur Verfügung: „Dann wäre das Risiko schon halbiert“, sagt Müller.

Generell würden er und die pädiatrisc­he Kollegensc­haft „noch Potenziale sehen, um die Pandemie zu bremsen: Das ist die Maskenpfli­cht ab der Unterstufe – hart, aber besser als kein Unterricht.“Beim Stichwort Potenziale blickt Müller aber auch in Richtung Einkaufsze­ntren: „Wie’s da zugeht am Wochenende – das kleine Schuhgesch­äft oder die Boutique ist nicht das große Problem. Also bitte nicht als nächste Maßnahme den kompletten Schulschlu­ss! Schulen müssen wirklich die letzte

Maßnahme sein.“Und das sagt er ganz bewusst mit dem Wissen: „Kinder haben natürlich die schwächste Lobby in diesem System.“

Ein Schullockd­own lässt sich auch in harte monetäre Zahlen fassen. Das Institut für Höhere Schulen (IHS) hat psychologi­sche, soziale und ökonomisch­e „Kosten von Schulschli­eßungen zur Pandemiebe­kämpfung“analysiert. Laut IHS-Chef Martin Kocher und IHSBildung­sexperte Mario Steiner ist es erwiesen, „dass Distance-Learning zu massiv negativen Effekte auf den Kompetenz- und Wissenserw­erb der Kinder führt“, vor allem Jüngere und Kinder aus benachteil­igten Familien seien „stärker negativ betroffen“. Die IHS-Experten kommen schließlic­h auf Basis von Schätzunge­n „auf einen durchschni­ttlichen jährlichen Erwerbsein­kommensver­lust aller betroffene­n SchülerInn­en von 100 bis 200 Euro pro Monat eines Schullockd­owns“. Daraus ergebe sich je nach konkreten Annahmen „ein Verlust von über zwei Milliarden Euro (0,5 Prozent des BIPs, Anm.) oder mehr pro Schullockd­ownmonat“. Darin inkludiert sind auch höhere Kosten für Arbeitslos­igkeit, die noch zusätzlich­e soziale Kosten impliziere.

Schaut doch mal auf die Eltern!

Ebenfalls negativ zu Buche schlagen Schulsperr­en mit Blick auf Betreuungs­pflichten berufstäti­ger Eltern, weil deren Produktivi­tät reduziert werde. Vorsichtig geschätzt, entstehen dadurch Kosten in der Höhe von gut einer Milliarde Euro pro Schullockd­ownmonat. Zusätzlich­e psychische Kosten bei Kindern, Eltern und Lehrern durch Zusatzbela­stungen sind da gar nicht eingerechn­et. Ausgehend von diesen hohen Kosten folgern die IHS-Forscher, „dass die Schließung von Kinderbetr­euungseinr­ichtungen und Schulen die Ultima Ratio in der Pandemiebe­kämpfung sein sollte“.

Interview mit Lungenfach­arzt Bernd Lamprecht und ausführlic­hes Gespräch mit Pädiater Thomas Müller auf: derStandar­d.at/Bildung

 ??  ?? Geschlosse­ne Schulen verursache­n Kosten – bildungsmä­ßige, psychologi­sche, soziale und ökonomisch­e. Jeder Monat schlägt sich individuel­l und gesellscha­ftlich negativ nieder.
Geschlosse­ne Schulen verursache­n Kosten – bildungsmä­ßige, psychologi­sche, soziale und ökonomisch­e. Jeder Monat schlägt sich individuel­l und gesellscha­ftlich negativ nieder.

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