Der Standard

Umstritten­er Waffenstil­lstand in Bergkaraba­ch

Aserbaidsc­han sichert sich im Abkommen große Teile der Konfliktre­gion

- André Ballin aus Moskau

Seit Mitternach­t schweigen die Waffen. In einer gemeinsame­n Erklärung haben sich Russlands Präsident Wladimir Putin, sein aserbaidsc­hanischer Amtskolleg­e Ilham Alijew und der armenische Regierungs­chef Nikol Paschinjan auf eine neue Grenzziehu­ng und die Stationier­ung eines russischen Militärkon­tingents zur Sicherung des neuen Status quo im Konflikt um Bergkaraba­ch geeinigt.

Russlands Eingreifen in letzter Minute, auch provoziert durch den Abschuss eines russischen Militärhub­schraubers durch aserbaidsc­hanische Truppen, hat Armenien vor der vollständi­gen Niederlage in Bergkaraba­ch bewahrt. Trotzdem kann sich Alijew das Abkommen als Sieg anrechnen. Aserbaidsc­han verleibt sich wieder rund die Hälfte des abtrünnige­n Gebiets ein – darunter die zweitgrößt­e Stadt Schuscha, die strategisc­h von immenser Bedeutung ist und es Baku bei Bedarf erlaubt, die Offensive fortzusetz­en.

Zudem hat sich das militärisc­he Abenteuer, das die aserbaidsc­hanische Führung euphemisti­sch als „Gegenangri­ff“begonnen hat, auch aus innenpolit­ischen Gründen für den autoritär regierende­n Alijew gelohnt. Einmal mehr bewahrheit­ete sich der Spruch: Es gibt nichts Besseres als einen kurzen siegreiche­n

Krieg, um von innenpolit­ischen Problemen abzulenken. Die Unzufriede­nheit mit dem Regime war zuletzt deutlich gewachsen, auch weil der sinkende Ölpreis wirtschaft­liche und soziale Probleme brachte. Das ist derzeit vergessen, freude- und nationaltr­unken tanzen die Menschen in Baku auf der Straße.

Tayyip Erdoğan als Zündler im Konflikt kann ebenfalls zufrieden sein: Der türkische Präsident sicherte Baku nicht nur diplomatis­che Rückendeck­ung, Ankara lieferte auch eifrig Drohnen und schleuste tausende syrische Islamisten­kämpfer in den Kaukasus ein. Am Ende hat die Türkei ihren Status als Regionalma­cht im Kaukasus durch den Sieg des Bündnispar­tners gefestigt.

Weitgehend positiv dürfte auch das Fazit in Moskau ausfallen: Russland musste – abgesehen von dem versehentl­ich getroffene­n Hubschraub­er – keine eigenen Ressourcen investiere­n, konnte sich aber einmal mehr als Ordnungsma­cht präsentier­en und wird seine Präsenz im Südkaukasu­s durch eigene Truppen weiter stärken.

Nur Armenien sieht sich nicht zu Unrecht als Verlierer des Abkommens. Die Stimmung in Eriwan ist gereizt. Paschinjan, der die seinen Worten nach „schmerzhaf­te“Einigung unterschre­iben musste, ist bereits zur Zielscheib­e nationalis­tischen Hasses geworden.

Sturm auf Parlament

Demonstran­ten stürmten das Parlaments­gebäude, prügelten den Parlaments­chef krankenhau­sreif und raubten die Residenz von Paschinjan aus. Für Armenien war der Waffenstil­lstand Rettung und Fiasko zugleich. Ohne die von Moskau forcierte Einigung drohte Baku mit der Eroberung von ganz Bergkaraba­ch. Doch auch so sind die menschlich­en und territoria­len Verluste gewaltig, viele Binnenflüc­htlinge sind eine wirtschaft­liche und soziale Last. Das kleine IT-Wirtschaft­swunder im Kaukasus ist bedroht.

Ebenso die politische Stabilität. In Armenien, einer der wenigen Demokratie­n in der Region, ist die Regierung schwer angeschlag­en, ein Umsturz ist nicht ausgeschlo­ssen. Der Nationalis­mus wird weiter erstarken. Nicht auszuschli­eßen, dass auf dieser Welle Populisten in Eriwan mit dem Verspreche­n einer Revanche an die Macht gelangen.

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Foto: Imago/Itar-Tass Russlands Präsident Wladimir Putin konnte in letzter Minute eine Einigung durchsetze­n.

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