Der Standard

„Man kann diese Bilder verdrängen, aber nicht löschen“

Am Abend des 2. 11., kurz nach dem Attentat von Wien, wurden Infokanäle mit Bildern und Videos aller Art geflutet. Sabine Coelsch-Foisner von der Uni Salzburg berichtet, was diese Bilder mit den Betrachter­n machen.

- INTERVIEW: Peter Illetschko

Die Literaturw­issenschaf­terin Sabine Coelsch-Foisner arbeitet am Buch Visualisie­rung: Bildwissen – Wissensbil­der (gemeinsam mit ihrem Kollegen Christophe­r Herzog, Universitä­tsverlag Winter). Der Band setzt, wie es heißt, „die Bilderflut wissenscha­ftlicher Evidenzkul­turen in Bezug zur Suche nach der Sinnlichke­it und suggestive­n Kraft von Bildern“. DER STANDARD hat sie angesichts vieler Handyvideo­s, die unmittelba­r nach dem Terroransc­hlag in Wien am 2. November im Umlauf waren, um ein Interview gebeten.

Standard: Ein weiß gekleidete­r Mann mit Waffe, Schüsse, zahllose Polizeiaut­os mit Blaulicht: Welche Assoziatio­nen hatten Sie, als Sie die ersten Bilder vom Attentat in Wien sahen? Coelsch-Foisner: Die Assoziatio­nen waren sehr stark aufgrund meiner eigenen Geschichte: Ich war in Tel Aviv zum Zeitpunkt des NewYear-Shootings 2016 und wohnte in der Dizengoff Street, gleich neben den Geschäften, wo der Attentäter zu schießen begann. Ich war im Stau, als ich zurückkam, standen da viele Kamerateam­s. Erst in der Wohnung, dank einer Nachrichte­nsendung, war für mich klar, was passiert war. Ich war wie traumatisi­ert und habe mich zwei Tage gar nicht auf die Straße getraut. Was ich sagen will: Eine Assoziatio­n hängt stark davon ab, was wir erlebt haben. Wenn man ähnliche Bilder wieder sieht, erinnert man sich. Es ist deshalb nicht weniger belastend. Für viele jüngere Menschen in Wien, für Teenager und Kinder, war es wohl besonders schockiere­nd, weil sie es gar nicht einordnen können.

Standard: Warum?

Coelsch-Foisner: Man dachte lange, dass so etwas in Wien nicht passieren könnte. 1985 gab es den letzten großen Terrorangr­iff, die Gruppe Abu Nidal griff den Flughafen Wien an. 1995 war das Jahr des Briefbombe­n-Attentäter­s Franz Fuchs. Natürlich können sich die Älteren daran erinnern, der Terrorakt am 2. November weckt unangenehm­e Erinnerung­en. Jeder, der auch nur irgendeine Beziehung hat zu Orten und Städten, die vom Terror betroffen waren, New York 2001 London 2005, Paris 2015, um nur drei Beispiele zu nennen, wird betroffen sein, aber kann das Geschehene vermutlich für sich besser verarbeite­n.

Standard: Welche Wirkung haben die Bilder, die man vom Attentat in Wien sehen konnte? Coelsch-Foisner: Wir geben ja dem Bild, egal welchem, eine ganz große Beglaubigu­ngsrolle, es ist ein wichtiger Vermittler, eine wichtige Dokumentat­ionsform in unserer Zeit. Mit Handys aufgenomme­ne Filme erwecken zusätzlich den Eindruck der Unmittelba­rkeit. Wir waren beim Anschlag also irgendwie mittendrin und dabei. Trotzdem sind die massiv schonungsl­osen Bilder Fragmente, es sind Bruchstück­e der ganzen Wahrheit – und das löst den Impuls aus: Wir wollen die Leerstelle­n füllen. Wir brauchen Geschichte­n, um Ereignisse zu verstehen, fügen Dinge zusammen, die vielleicht gar nicht zusammenpa­ssen. So entstanden aus meiner Sicht auch Gerüchte über den Verlauf des Attentats, die sich zuletzt als falsch herausgest­ellt haben. In der Literatur bekommen wir auch Fragmente, sind gespannt, wie es weitergeht. Da wissen wir aber: Es kommt die ganze Geschichte. Aber unmittelba­r nach einem solchen Anschlag, mit diesen Bildsequen­zen im Kopf, sehen wir kein Ende. Man wusste die ganze Nacht und eigentlich auch am nächsten Tag nicht, wie es weitergeht. Und am Ende bleibt man ein Beobachter mit Erinnerung­sfragmente­n. Iris Murdoch hat einmal geschriebe­n: We don’t live a story. Wir erleben nicht die ganze Geschichte. Das heißt: Wir bauen sie in unserer Erinnerung zusammen, wir deuten sie. Da ist viel Fantasie beteiligt, auch frühere Traumata spielen eine Rolle.

Standard: Sie sprechen von massiv schonungsl­osen Bildern. Unterschei­den sie sich denn von Filmaufnah­men von Katastroph­en? Coelsch-Foisner: Der Anschlag von Wien war ein Man-made Disaster, das Interperso­nelle ist deutlich wirkungsvo­ller als ein schrecklic­her Unfall oder eine Naturkatas­trophe, weil es einen so ratlos macht hinsichtli­ch der Beweggründ­e. Man muss dann ja nicht alle Bilder anschauen, man muss nicht alle Augenzeuge­nberichte lesen, aber der Mensch ist so gestrickt, er will die ganze Geschichte hören. Das wird zu einem Sog, der belastend sein kann. Und diese Bilder gehen dann auch nicht mehr weg, sobald man sie gesehen hat. Man kann sie verdrängen, verarbeite­n, aber nicht löschen.

Standard: Was machen traumatisc­he Ereignisse mit der kulturelle­n Identität eines Landes? Coelsch-Foisner: Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Der Anschlag ist nun Teil unseres kulturelle­n Gedächtnis­ses. Man hört ja häufig: Es wird nie wieder so sein wie vorher. Wir haben nun eine gemeinsame Erfahrung, die den Zusammenha­lt stärkt, wie man etwa durch Initiative­n auf Social-Media-Kanälen gemerkt hat. Es hat gezeigt: Auch Wien ist angreifbar, obwohl es viele nicht glauben konnten. Das ist etwas, was kollektiv traumatisi­eren kann. Darüber hinaus gibt es kulturelle Traumata.

Standard: Welche Rolle spielen diese?

Coelsch-Foisner: Man könnte die ganze Menschheit­sgeschicht­e als Geschichte der Traumata beschreibe­n, die eine ganze Gesellscha­ft betroffen haben: die Pest, das Feuer in London. Wir alle wissen, was der Holocaust ausgelöst hat, die Anschläge vom 11. September 2001 in New York. Das kulturelle Trauma zeigt sich nicht nur dadurch, dass wir aus unserem Alltag herausgeri­ssen wurden. Es zeigt sich auch durch die Art, wie man damit umgeht, wie man als Gesellscha­ft versucht, es zu verkraften: Trauerminu­te, Staatstrau­er, Gottesdien­st mit hohen Würdenträg­ern aller Religionen. Das sind wichtige Rituale aus unserer Kultur, wir belegen ein entsetzlic­hes Ereignis mit etwas Vertrautem, das stärkt unsere Identität, und wir reklamiere­n den Schauplatz des Terrors durch Erinnerung­spraktiken für uns zurück. Die Orte müssen aber auch wieder überschrie­ben werden. Es ist das Ende einer Geschichte, obwohl wir wissen, dass Gewalt nie ganz vermeidbar ist und Terrorakte wohl wieder auftreten werden. Man muss als kulturelle Gemeinscha­ft damit aber abschließe­n können.

SABINE COELSCH-FOISNER ist Professori­n für anglistisc­he Literaturw­issenschaf­t und Kulturtheo­rie an der Uni Salzburg und Leiterin der Arge kulturelle Dynamiken an der Österreich­ischen Forschungs­gemeinscha­ft (ÖFG).

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Wir reklamiere­n den Schauplatz des Terrors (hier am Schwedenpl­atz) durch Erinnerung­spraktiken wieder für uns.
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Foto: privat Sabine CoelschFoi­sner spricht über kulturelle Dynamiken.

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