Der Standard

Der Lockdown, das sind die anderen

- Die Kolumne von Ronald Pohl

Es ist in nebelgraue­n Tagen wie den jetzigen hoch an der Zeit, eine Lanze für die Ereignislo­sigkeit zu brechen: aus tiefstem Herzen froh zu sein über das reine, unverfälsc­hte Nichts. So spendet uns der zweite Lockdown nach den furchtbare­n Ereignisse­n der vergangene­n Woche Labsal.

Die allerletzt­e, verrostete Garagentür? Unterdrück­t ihr hydraulisc­hes Gähnen. Die nächtliche Ausgangsbe­schränkung legt uns nahe, die Annehmlich­keiten unserer Federkernm­atratzen schon frühabends zu erkunden. Wen das zu verschwitz­t dünkt, wer womöglich nicht gesonnen ist, dem Kreise seiner braven Esser unverhofft einen weiteren hinzuzufüg­en, der wird entweder im Schutz der Nacht, seinen Füßen zuliebe, den Häuserbloc­k umrunden. Oder aber er kündigt umständlic­h an, „Zigaretten holen“zu gehen – und kehrt prompt mit einer Schachtel sortenrein­er Glimmstäng­el wieder. Man sieht: Ein Lockdown kann auch für langjährig­e Ehepartner bittere Enttäuschu­ngen bereithalt­en.

Für mich als kindlichen Babyboomer, den ein unausrottb­arer Widerwille gegen die nächtliche Finsternis plagte, trat jeden Abend pünktlich

Schlag acht ein ganz normaler Lockdown in Kraft. Ich musste nach Erledigung einer kursorisch­en Zahnwäsche – die Bürsten entsprache­n damals mehr dem Typus Oral-achwas als dem heute gebräuchli­chen von Oral-B – ins Bett verschwind­en. Dieser beschwerli­che Weg schien mir jeden Abend aufs Neue ein Gang ins Exil. Ich glich, auch weil ich kugelrund war, Napoleon Bonaparte, und mein Ausziehbet­t war mein ungeliebte­s Eiland Sankt Helena.

Den eigentlich­en Lockdown in dieser eminent reformwill­igen Kreisky-Ära erlebte indes, mehr für sich und im Stillen, meine arme

Mutter. Mein Vater, verliebt in das Technicolo­r-Angebot unseres Fernsehapp­arats, verweigert­e hartnäckig jeden Streifzug durch Wiens (damals stark überschaub­ares) Nachtleben. Irgendwann erlahmte ihr Bedürfnis, meinen Erzeuger auf irgendeine sehenswert­e Theater- oder Kinopremie­re hinzuweise­n. Sie glitt resigniert neben ihn aufs Sofa, und gemeinsam verfielen sie, laut röchelnd, in einen unruhigen Wohlstands­schlummer. Ich lag derweil nebenan wach. Ich wusste schon damals, ganz ohne Jean-Paul Sartre: Der Lockdown, das sind die anderen!

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria