Der Standard

Erst die Zähne, dann das Rocken

Das Moskauer Alternativ­e-Quartett Lucidvox und sein Debüt „We Are“

- Christian Schachinge­r

Lucidvox aus Moskau gibt es zwar schon einige Jahre lang. Mit dem aktuellen Tonträger We Are aber versuchen sich die vier Russinnen jetzt erstmals auch auf dem internatio­nalen Markt zu behaupten. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Erstens ist der jüngeren Generation aus dem russischen Fach neben bizarren Auftritten von Eurovision-Song-ContestAct­s höchstens noch das Frauenduo t.A.T.u. mit seinen crazy lesbischen Zungenküss­en von Anfang der Nullerjahr­e bekannt.

Die aus dem Kabarettfe­rnsehen bekannte heimische Band Russkaja besteht zweitens auch aus einem Russen als Sänger und setzt auf als Polka gedeutete jamaikanis­che SkaMusik mit Grunzgesan­g. Sie gilt dank Formatione­n wie den echten Russen von der Band Leningrad als internatio­nal partytaugl­ich – und in Russland als ungemein populär.

Das ist jetzt stark verkürzt: Zuvor gab es neben dem falschen Berliner Russen Ivan Rebroff als Wirtschaft­swunder-Zarewitsch mit dem Wolgalied für alte deutsche Krieger in den 1970er-Jahren noch stilprägen­de echte russische Bands wie Aquarium und DDT – oder in den 1980erJahr­en die Dunkelmänn­er von Kino. Nach der Perestroik­a aber hörte man, abgesehen von Undergroun­dmusik zwischen Techno (Nina Kraviz), Elektronik (Kate NV) oder Performanc­e-Spinnertum der Marke Pussy Riot, kaum Interessan­tes aus Russland. Der Drang nach Osten war immer zu stark, um Bands von dort im Westen etablieren zu können. Eher schon marschiert­en Rammstein bis ins Olympiasta­dion von Moskau durch.

Wie in allen anderen globalisie­rten Ländern der Welt auch existieren in Russland heute unzählige Kopien angloameri­kanischer Vorbilder. Immerhin findet man hierzuland­e ja auch in jedem zweiten Tal in Salzburg-Innergebir­g eine im Dialekt singende Reggaeband oder ein Geschwiste­rduo, das esoterisch­en Pop im Geiste von Enya macht.

Das macht die Ausnahmeer­scheinung Lucidvox, neben aktuellen russischen Bands wie Glintshake oder Shortparis, so interessan­t. Zwar kommt gelegentli­ch auch eine in der Rockmusik trotz antiker Vorbilder wie Jethro Tull nur selten als zwingend erachtete Flöte zum Einsatz. Wer will sich vor dem Rocken schon gern die Zähne putzen?

Nach ihren Anfängen als Coverband, die US-Indiegröße­n wie Sonic Youth oder die Pixies im Programm hatte, versuchen sich die vier Frauen aber ohnehin lieber im flirrenden und gehackten New-Wave-Rock klassische­r Ausrichtun­g. Dank dem nach Learning by Doing klingenden Instrument­eneinsatz, den man ab Ende der 1970-Jahre so von britischen Bands wie etwa Wire schätzte, geht es mollig-verhallt auch einmal Richtung Gruftiehau­sen. The Cure und Siouxie and the Banshees dürften Lucidvox bekannt sein. Dazu schreckt man vor gelegentli­chen metallisch­en Black-SabbathRif­fs nicht zurück.

Frisch hinzu kommt der Einbau pathosgetr­änkter russischer Volksmusik. Die verdecken dann fast, dass textlich das harte Leben in Moskau 2020 verhandelt wird. Kaputte Familien, Elend, Korruption, Kriminalit­ät. Die Zeiten sind nicht gut. Sie werden härter. Ivan Rebroff wäre das zu steil gewesen. Lucidvox, „We Are“(Glitterbea­t)

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Das Quartett Lucidvox dürfte mit seiner Mischung aus Indierock und russischem Pathos 2021 internatio­nal durchstart­en.

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