Der Standard

Lockdown oder nicht? Koalition ringt um Schulfrage

Der Widerstand gegen die Schließung sämtlicher Schulen wird immer breiter, die türkis-grüne Regierung sucht eine gemeinsame Linie. Bis Freitag soll eine Entscheidu­ng fallen, möglich ist auch eine Teillösung.

- Gerald John, Julia Palmai

Je näher der Stichtag, umso hitziger die Diskussion: Bis Freitag will die Regierung anhand der jüngsten Infektions­zahlen entscheide­n, ob der Lockdown verschärft wird. Allzu viele Möglichkei­ten bleiben nicht mehr. ÖVP und Grüne könnten die Geschäfte zusperren – oder die Schulen nun auch für alle unter 14-Jährigen schließen.

Die Front verläuft nicht nur durch die Fachwelt und die sozialen Medien, sondern auch quer durch die Regierung. Türkise wie grüne Stimmen aus dem Regierungs­apparat bestätigen, dass Kanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz für den Schulschlu­ss plädiere. Auf der Gegenseite stehen die Grünen mit Gesundheit­sminister Rudolf Anschober, bisher aber auch Bildungsmi­nister Heinz Faßmann, ein Parteifreu­nd Kurz’. Ausschließ­en wollte Faßmann diese Ultima Ratio am Mittwoch aber nicht: Dies sei nicht seine Angelegenh­eit, „sondern eine Sache des Gesundheit­sministers in Zusammenar­beit mit der Regierungs­spitze“.

Unter den Zurufen von Außen haben die Contra-Stimmen längst die Überhand gewonnen. Heftige Gegenreakt­ionen ausgelöst hat jener Aufruf von vier hochrangig­en, aber fachfernen Wissenscha­ftern Anfang der Woche, die Schulen zu schließen. Sollte es sich dabei, wie ein ins Krisenmana­gement der Regierung involviert­er Experte vermutet, um eine mit dem Kanzleramt konzertier­te Aktion gehandelt haben, dann ist der Schuss nach hinten losgegange­n.

„Mittels höchst fragwürdig­er Modelle und unter Berufung auf nicht nachvollzi­ehbare Quellen“werde offenbar versucht, den „Schullockd­own“herbeizure­den, kritisiert die Österreich­ische Gesellscha­ft für Kinderund Jugendheil­kunde (ÖGKJ). In den wissenfekt­ionszahlen schaftlich­en Erkenntnis­sen finde sich kein Hinweis, dass Kinder bei Covid-19 „Treiber“seien und Schulschli­eßungen die Situation günstig beeinfluss­en könnten, sagt ÖGKJChefin­fektiologe Volker Strenger von der Uni Graz: Wenn es an Schulen zu Ansteckung­en komme, dann verliefen diese viel häufiger von den Erwachsene­n zu den Kindern als umgekehrt.

Strenger zitiert eine Statistik der Agentur für Gesundheit und Ernährungs­sicherheit (Ages), die bei den Jüngsten den geringsten Anstieg ausweist. So stieg die Zahl der wöchentlic­hen Corona-Infektione­n seit der letzten Ferienwoch­e bei den unter Sechsjähri­gen um 456 Prozent, bei den Sechs- bis Neunjährig­en um 416 Prozent und bei den Zehn- bis 14-Jährigen um 1200 Prozent. Die 35bis 39-Jährigen kamen hingegen auf plus 2026 Prozent, die 45-bis 49-Jährigen auf plus 2240 Prozent.

Nur halbes Risiko bei Kindern

Lockdown-Gegner nennen überdies eine Reihe von internatio­nalen Untersuchu­ngen. Eine Metaanalys­e von 32 Studien zeigt, dass Kinder unter 14 Jahren nur etwa das halbe Risiko von Erwachsene­n haben, am Virus zu erkranken. Dem Chinese Center for Disease Control and Prevention zufolge liegt die Wahrschein­lichkeit der unter Zehnjährig­en, symptomati­sch an Covid-19 zu erkranken, bei einem Prozent, ebenso bei Zehn- bis 19-Jährigen. Bei 20- bis 29-Jährigen steigt die Quote auf acht Prozent, bei 39- bis 79-Jährigen auf 87 Prozent.

Auch die Erfahrunge­n aus den nordischen Ländern werden als Beleg gehandelt. Obwohl Schweden Kindergärt­en und Schulen im Frühjahr nicht geschlosse­n hat, seien die Innicht höher ausgefalle­n als im benachbart­en Finnland, das einen Bildungslo­ckdown verhängt hatte.

In den Schulen seien die Kontaktper­sonen im Ansteckung­sfall viel leichter zu verfolgen als anderswo, argumentie­rt Thomas Szekeres, Präsident der Ärztekamme­r. Statt zusperren zu müssen, sollten die Schulen lieber die Prävention­smaßnahmen ausschöpfe­n, etwa: Maskenpfli­cht für Lehrer auch außerhalb der Klasse, höhere Mindestabs­tände, Plexiglass­cheiben, unterschie­dliche Start- und Endzeiten für die Klassen.

Der Einspruch geht weit über die medizinisc­he Fachwelt hinaus, er reicht von der Caritas, die einen weiteren Rückfall sozial benachteil­igter Kinder fürchtet, bis zu den Landesregi­erungen und der Wirtschaft­skammer, die große Probleme auf Beschäftig­te und Betriebe zukommen sieht – speziell für Ein-Personen-Unternehme­rinnen.

Wird die Regierung die Einwände erhören? In Koalitions­kreisen sind unterschie­dliche Prognosen zu hören. Während eine Stimme aus der grünen Führungsri­ege versichert, dass die Volksschul­en und Unterstufe bis über den Freitag hinaus offen blieben, heißt es von anderer – türkiser – Seite: Der Anstieg der Infektione­n werde keine andere Wahl als die Schließung lassen.

Ventiliert wird allerdings auch die Möglichkei­t einer Teillösung, etwa: Volksschul­en bleiben offen, Unterstufe­n sperren zu. Außerdem stellt sich die Frage, ob gleichzeit­ig der Handel offen bleiben darf. Statt in die Schule ab ins Shoppingce­nter? Das wäre wohl schwer zu argumentie­ren.

Fix scheint momentan aber nur eines: Die Entscheidu­ng ist noch nicht gefallen.

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Bleiben die Klassen wie im Frühjahr verwaist? Es gibt viele Einwände.

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