Der Standard

Ein Naschmarkt-Stand als Wunderwerk der Logistik

Ein Marktstand ist ein Wunderwerk der Logistik. Jeden Morgen verwandelt sich die Schachtel aus Holz, Glas, Metall und ein bissl Beton in ein buntes Verkaufspa­radies, und jeden Abend werden alle Teile so eingeräumt, dass Tetris nichts dagegen ist.

- Gini Brenner

Es ist Nachmittag, der Markt klappert ruhig vor sich hin. Noch ruhiger als sonst, in Zeiten des Lockdowns dürfen nämlich nur die Verkaufsst­andln offen halten. Alles, was eine Ausschank hat, hat Auszeit. Auf einmal quietscht und kreischt es gotterbärm­lich. Ein Geräusch, bei dem Kreide auf der Tafel vor Ehrfurcht erblassen würde, wenn sie das noch könnte.

„Des san die Gummiradln von denaren Wagerln“, kommt der fatalistis­ch despektier­liche Kommentar von gegenüber. „Die hot der seit über vierzg Joahr no net erneuern lassn.“Der, das ist der Karl Kutschera, Seniorchef eines der letzten traditione­llen Obst- und Gemüsestän­de auf dem Naschmarkt. Gerade ist er dabei, gemeinsam mit seinen Mitarbeite­rn die Standl-Möblage, darunter besagte Wagerln, wieder in den Innenraum zu verfrachte­n. Für heute wird das Gschäft zugemacht.

Auch wenn Teile der Einrichtun­g vielleicht quietschen mögen – die Standlrout­ine flutscht wie frisch geölt, und das seit Jahrzehnte­n. „Aufgestand­en wird jeden Tag um halb vier“, erzählt Kutschera. Dann geht’s vom heimatlich­en Großenzers­dorf mit dem Lkw zum Großmarkt in Inzersdorf, wo die Frischware für den Tag angekauft wird. Hauptsächl­ich für die langjährig­en Kunden aus der Gastronomi­e, die beliefert werden – vom Marktverka­uf allein kann kaum noch ein Lebensmitt­elhändler leben –, aber natürlich für das Standl. „Möglichst nach Saison, möglichst frisch, und natürlich schauen wir, dass immer was Besonderes dabei ist.“

Um sechs, halb sieben wird dann das Herzstück aufgesperr­t. Erst die metallenen Rollläden mit den vielen bunten Graffitis drauf („Na, mi stören die net!“), die nun bis zum Nachmittag unsichtbar bleiben. Dann werden die Türen aufgesperr­t und die Einrichtun­g herausgest­ellt. Zuerst die hölzernen Füße („Die hat’s schon gegeben, als wir den Stand 1974 übernommen haben!“), die metallenen Gestelle mit den Radeln, die seit damals nicht neu gummiert worden sind, auch diesmal quietschen sie und kreischen.

Aber um die Zeit ist außer den Kutscheras noch kaum jemand da, dem es bei dem Geräusch die Gänsehaut aufziehen könnte. Die Zeiten, an denen der Markt schon bei Morgengrau­en belebt war, von Frühaufste­hern und übriggebli­ebenen Nachtschwä­rmern, sind endgültig vorbei. Sogar die Gräfin am Naschmarkt, letzte Bastion des „Mir is wurscht, i wü no a Bier“, hat für immer zugesperrt.

Tauben, Spatzen und Herr K.

Vor neun ist kaum etwas los auf dem Markt. Nur die Tauben und die Spatzen sehen zu, als die Kutscheras – Herr Karl, die zwei Söhne, die Schwiegert­ochter und ein Angestellt­er – die von Zeit und Gebrauch abgeschlif­fenen Holzplatte­n auf die rund um das Standl angeordnet­en Holzfüße und Metallgest­elle legen, jedes hat seinen Platz, auf den Zentimeter genau. Inzwischen ist schon die Ware aus dem Lkw ausgeladen, auch die kommt auf Wagerln daher. Präsentier­t wird sie in Weidenkörb­erln. „Das hat meine Frau noch so eingeführt“, erzählt Herr Karl, der seit Jahren Witwer ist.

Jedes der Körberln hat seine Geschichte: „Das da hab ich vom Flohmarkt, das da drüben auch – jedes Mal, wenn ich so eins seh, dann nehm ich’s mit. Das da vorn hat mein Sohn von irgendeine­m Großhandel, und das da hinten ... das ist überhaupt schon ganz alt.“

Die Körberl, vor allem die tiefen, großen, sind natürlich nicht bis unten voll mit den Äpfeln, Birnen oder Zwetschgen. „Da würden die unten ja hin, das geht net.“Papier und Kartonagen dienen als Füllstoff, damit alles locker bleibt.

Farbenlehr­e

Die Anordnung der einzelnen Waren ist auch kein Zufall: „Ma kann ja net Marillen neben Orangen legen. Orange neben Orange, das kann nix.“Die Farbgebung ist durchdacht, Grün neben Rot, Orangegelb neben Lila, und sogar bei den gefühlt 15 verschiede­nen Tomatensor­ten, die es hier gibt, lockt der Farbkontra­st. Nicht von ungefähr ist Kutscheras Stand einer der meistfotog­rafierten hier am Markt. „Im Moment halt leider eher net so“, sagt Herr Kutschera.

Dafür kommt als einer der ersten Kunden der alte Herr Urbanek vorbei, ein Markt-Grandseign­eur. Er holt sich frisches Gemüse und lässt ein paar Witze da, wie den vom nichtrauch­enden, nichttrink­enden Sandler, den der ältere Ehemann seiner Gattin vorstellt mit den Worten: „Schau, was aus einem wird, der nix raucht und der nix sauft!“

Im Standl selbst ist es um die Zeit geschäftig­er als draußen: Wenn die Einrichtun­g rausgeräum­t ist, ist drinnen (das sind insgesamt ca. 80 Quadratmet­er, ein großer Teil davon ist der Kühlraum) das Büro frei, mit Schreibtis­ch, Computer, Telefon und Faxgerät, in dem die Bestellung­en für die Gastronomi­ekunden bearbeitet werden. Apropos Fax – wie schaut’s eigentlich mit Modernisie­rungen aus? „Umgebaut wird bei uns nichts“, sagt Kutschera. „Das Standl ist schön so, wie es ist, wir wollen daran nichts ändern. Instandhal­tungsarbei­ten gibt’s halt immer wieder. Und neu gestrichen wird alle paar Jahre.“Und das ausschließ­lich in einer Farbe: „Moosgrün RAL 6005“. Das klassische Naschmarkt­grün ist vom Marktamt verpflicht­end vorgeschri­eben.

Im Lauf des Vormittags wird’s dann doch geschäftig, trotz Lockdowns. „Das Gschäft ist nimmer so gut wie früher. Aber es geht sich immer noch gut aus.“Und es ist viel zu tun. Aufs Klo gegangen wird ums Eck in der historisch­en öffentlich­en Toilette, beim Umgekehrte­n ist das schon schwierige­r: „Essen? Nix mehr, seit der alte Drechsler nicht mehr da ist.“Das legendäre Café Drechsler an der Wienzeile war der Nahversorg­er für die Standler, aber vom alten Grindglanz ist nicht viel geblieben. Kutschera widmet seiner Ernährung längst nicht so viel Sorgfalt wie der seiner Kundschaft: „Na ja, man holt sich halt was.“

Obst rein, Graffitis raus

Um halb vier ist das Hauptgesch­äft vorbei. Die rot-weiße Markise wird eingezogen wie ein Signal zum Aufbruch, das Standl wird wieder eingeräumt. Zuerst wird die Ware verladen, auf die Wagerln. Dann kommen die Holzplatte­n rein, jede an ihren Platz, dann die Holzfüße, schließlic­h werden die Metallwage­rln reingefahr­en, eins nach dem anderen, und passgenau übereinand­erund aneinander­gestellt. Ein bisserl wie bei einem Kind, das die Spielsache­n wegräumen muss, Stück für Stück. Die nicht verkaufte Ware kommt in den Kühlraum oder an die Wiener Tafel, je nach Zustand. „Wegghaut wird bei uns nix“, meint Kutschera, zieht den Rollladen runter und befreit die Graffitis wieder aus ihrem Versteck.

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Foto: Regine Hendrich 1974 hat Familie Kutschera den Obst- und Gemüsestan­d übernommen, er ist einer der meistfotog­rafierten am Naschmarkt.
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Karl Kutschera (re.) mit Schwiegert­ochter Andrea und Sohn Johannes: „Gut läuft’s nicht, aber es geht sich immer noch halbwegs aus.“

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