Trump in uns
Seit Wochen fragen sich Kommentatoren und Politologen in aller Welt, wie es sein konnte, dass mehr als siebzig Millionen US-Amerikaner Donald Trump gewählt haben. Masha Gessen, die in den USA lebende russische Bürgerrechtlerin und Autorin, hat dazu in ihrem neuesten Buch Autokratie überwinden eine interessante These entwickelt: weil Trump das ausspricht, was viele von uns heimlich denken, aber nicht zu sagen wagen.
Seit den Tagen ihrer Gründerväter berufen sich die Menschen in den Vereinigten Staaten auf die Ideale der Demokratie, der Freiheit und der Gleichheit. „Schickt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, die bemitleidenswerten Abgelehnten eurer gedrängten Küsten“, steht auf dem Sockel der Freiheitsstatue, die im Hafen von New York seit Jahr und Tag alle ankommenden Schiffe begrüßt. Ein hoher Anspruch, den alle nach außen bejahen, dem aber im Innersten nicht alle nachkommen können.
Anstand? Ein moralischer Orientierungspunkt für alle? Oder Heuchelei? Donald Trump war der erste Präsident, der sich von Anfang an um dieses Anständigkeitsgebot nicht scherte. Flüchtlinge aus Lateinamerika,
die vor Gewalt und Verfolgung Zuflucht in den USA suchten, nannte er Drogendealer und Vergewaltiger. Rechtsradikale, die in Charlottesville Naziparolen schrien, nahm er in Schutz. Seinen demokratischen Gegnern warf er vor, das Land in eine sozialistische Diktatur verwandeln zu wollen, und seine Anhänger rief er auf, den demokratisch regierten Bundesstaat Michigan zu „befreien“.
So etwas sagt man nicht. Aber viele Menschen innerhalb und außerhalb der USA mögen keine Flüchtlinge und keine Schwarzen, keine Liberalen und Linken, misstrauen allen Intellektuellen, politisch Korrekten und Gutmenschen und fürchten, dass Zuwanderer aus fernen Kulturen zu viel Einfluss gewinnen könnten. Donald Trumps Bewunderer empfanden es als befreiend, dass ihr Präsident offen aussprach, was sie insgeheim fühlten. Und sie legten noch eins drauf. Bei Versammlungen vor und nach der Präsidentenwahl wurden im Chor Parolen gerufen, die noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen wären: „Lock her up!“(„Sperr sie ein!“, Hillary Clinton, die demokratische Präsidentschaftskandidatin 2016), „Fire Fauci!“(„Schmeiß Fauci raus!“den parteilosen Virologen, der für Corona-Vorsichtsmaßnahmen eintrat).
Masha Gessen kennt Ähnliches aus ihrer Heimat Russland, und sie sieht Parallelen zwischen Trump und Wladimir Putin. Viele Europäer könnten noch andere Analogien beisteuern: Victor Orbán, Jarosław Kaczyński, Matteo Salvini, Herbert Kickl. Allen Populisten ist gemeinsam, dass sie bewusst Tabus brechen, aussprechen, was die politisch Korrekten nicht auszusprechen wagen. Sie machen salonfähig, was nicht salonfähig ist. Sie sagen Meinungsfreiheit und meinen Rassismus.
„Amerika ist anders“konnte man in den letzten Tagen vielfach lesen und hören. Ein Donald Trump wäre bei uns unmöglich. Wirklich? Nicht nur Masha Gessen ist anderer Meinung. Es gibt einen Trumpismus ohne Trump. Und wir sollten nicht vergessen, dass auch Adolf Hitler einst demokratisch gewählt wurde.