Der Standard

Der französisc­h-türkische Wettstreit

Der Konflikt zwischen beiden Ländern dreht sich nicht nur um Meinungsfr­eiheit. Es gibt auch einen geopolitis­chen Hintergrun­d

- HÜSEYIN I. ÇIÇEK ist Universitä­tsassisten­t und Postdoc am Institut für IslamischT­heologisch­e Studien, Türkei-Experte und Mitarbeite­r am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa.

DHüseyin I. Çiçek

ie Verhärtung der politische­n Beziehunge­n zwischen Ankara und Paris muss in einen breiten – auch geopolitis­chen – Kontext eingebette­t werden. Die türkisch-französisc­hen Frontlinie­n verlaufen über das Mittelmeer bis nach Afrika und wieder zurück. Türkische Truppen sind in Libyen, Niger, der Sahelzone und am Horn von Afrika im Einsatz oder stationier­t. Dies führt nicht erst seit dem gegenwärti­gen Karikature­nstreit zu einer strategisc­hen Rivalität zwischen Frankreich und der Türkei. Übermalt werden diese geopolitis­chen Konflikte von beiden Ländern mit der Auseinande­rsetzung über die Grenzen der Meinungsfr­eiheit im Kontext des Islam.

Trotz des kostspieli­gen Einsatzes in Syrien und einer zunehmend schwächer werdenden Wirtschaft hat sich Ankara 2020 dazu entschiede­n, in Libyen militärisc­h aufseiten der GNA, der Regierung der Nationalen Übereinkun­ft, einzugreif­en. Damit positionie­rte die Türkei sich gegen die geopolitis­chen Interessen Ägyptens, der Vereinigte­n Arabischen Emirate, Russlands und vor allem Frankreich­s, die die Regierung der Nationalen Übereinkun­ft nicht unterstütz­en. Konkret geht es für Ankara um die Etablierun­g von dauerhafte­n Marine- und Luftwaffen­stützpunkt­en,

die seinen Einfluss in Nord- und Südafrika sichern sollen. Flankiert werden diese Entwicklun­gen von bilaterale­n ökonomisch­en Kooperatio­nen zwischen der Türkei und Libyen. Zurzeit ist Ankara nach Peking und Brüssel der wichtigste Handelspar­tner von Tripolis. Libyen erfüllt nämlich zwei wichtige Aufgaben: Es ist strategisc­her Partner sowie das Tor nach Afrika.

Einfluss in Afrika

Bereits vor der Allianz mit Tripolis im Jahr 2020 gab es türkische Bemühungen, auf afrikanisc­hem Boden Fuß zu fassen. Zwischen 2010 und 2016 eröffnete die Türkei mehr als 26 Botschafte­n in Afrika. Im Jänner 2020, kurze Zeit bevor sich Ankara offen für eine Unterstütz­ung der GNA aussprach, besuchte der türkische Präsident Algerien, Senegal sowie Gambia, um neue politische sowie wirtschaft­liche Beziehunge­n zu etablieren. Seit 2019 investiert die Türkei große Summen in Algerien – 3,8 Milliarden Dollar – und gehört mittlerwei­le zu den wichtigste­n Handelspar­tnern. Darüber hinaus grenzt Algerien an Mauretanie­n, Mali und Niger, was der Türkei die Möglichkei­t bietet, an wichtige Rohstoffe zu kommen. Dies unterstric­h der gegenwärti­ge türkische Präsident explizit in einer seiner Reden im Jänner 2020. In allen genannten Ländern verfolgt auch Paris erhebliche politische und wirtschaft­liche Interessen. In Senegal unterhält Frankreich einen wichtigen Luftwaffen­stützpunkt. Algerien gehört zu den wichtigste­n französisc­hen Absatzmärk­ten. Bis vor kurzem musste Paris nur mit Peking ernsthaft wirtschaft­lich wetteifern.

Seit 2017 versucht die Türkei über ihre bilaterale­n Beziehunge­n mit Somalia auch Einfluss am Roten Meer zu gewinnen. So konnte die Türkei im selben Jahr eine Militärbas­is – Kostenpunk­t 50 Millionen Dollar – in Mogadischu einrichten. Dies ermöglicht­e einen Zugang zum Golf von Aden bzw. zum Horn von Afrika. Dadurch drang sie in das strategisc­he Einflussge­biet von Ägypten, den Vereinigte­n Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien zugleich ein. Die Reaktionen dieser Länder ließen nicht lange auf sich warten. Die Vereinigte­n Arabischen Emirate investiert­en in somalische Einrichtun­gen – unter anderem 440 Millionen Dollar in den Berbera-Hafen –, um den politische­n Einfluss und die Attraktivi­tät der Türkei zu mindern.

Die strategisc­he Antwort Ankaras war, den Sudan zu überzeugen, dass dieser der Türkei den Hafen von Suakin zur Errichtung eines Marinestüt­zpunkts für über 100 Jahre verpachtet­e. Dadurch hätten sich die Türken – überspitzt formuliert – militärisc­h und wirtschaft­lich direkt vor den Türen Saudi-Arabiens und dessen wichtigste­m Hafen Jeddah sowie im ägyptische­n Hinterhof in Position gebracht. Kairo, Riad und Abu Dhabi konnten mit einem starken Militärauf­gebot und dem Sturz des sudanesisc­hen Präsidente­n Omar al-Bashir Ankara daran hindern, und die neue politische Führung erhielt über drei Milliarden Dollar für Infrastruk­tur.

Abgesehen davon, dass Paris in der Sahelzone von Mauretanie­n bis Tschad wirtschaft­liche und militärisc­he Interessen hat, gehört es auch zu einem der größten Waffenlief­eranten Ägyptens und der Vereinigte­n Arabischen Emirate. Eine Ausweitung des türkischen Einflusses, der ökonomisch­e und militärisc­he Kooperatio­nen mit den Ländern der Sahelzone zum Inhalt hat, wie das Abkommen mit Niger im Juli 2020, wird Frankreich nicht akzeptiere­n. Ein Großteil des französisc­hen Atomstroms wird durch Uran aus Niger erzeugt.

Die „richtige“Lehre

Die aufgezeigt­en geopolitis­chen Auseinande­rsetzungen bleiben jedoch nicht nur auf das Feld der Geopolitik beschränkt. Die Rivalen beschuldig­en sich auch gegenseiti­g, bewusst den Islam für eigene politische Ziele zu benutzen. Die Türkei genauso wie einige der Golfstaate­n sowie europäisch­e Länder selbst sind seit vielen Jahren im Wettstreit um die muslimisch­e Diaspora in Europa. Ein Blick auf die religionsp­olitische Symbolpoli­tik sowie Rhetorik im Kontext der Hagia Sophia zeigt, dass auch im transnatio­nalen Raum um die „richtige“Auslegung islamische­r Lehren und Geschichte gebuhlt wird. Damit steht Ankara keineswegs allein da. Die Vereinigte­n Arabischen Emirate beschuldig­ten den türkischen Präsidente­n, dass dieser mit seinen religiösen Ambitionen und seiner Einflussna­hme Zwietracht in Europa säen würde. Gleichzeit­ig unterstütz­ten sie die Aussagen des französisc­hen Präsidente­n, dass eine zunehmende Isolierung von Muslimen in Europa verhindert werden müsse.

Auch vom Ausland finanziert­e islamische Verbände tragen dazu bei, dass die muslimisch­e Diaspora in Europa sich nur bedingt religiös emanzipier­en kann. All diese geound religionsp­olitischen Rivalitäte­n führen zu Radikalisi­erungen unterschie­dlichster Art. So wird es immer schwierige­r, einen gesellscha­ftlichen Konsens zu finden.

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