Der Standard

Was tun, wenn Leon nicht sprechen will

Für Kinder mit Entwicklun­gsstörunge­n, etwa beim Sprechen oder in der Motorik, gibt es in Wien Frühförder­ung. Die Corona-Krise zeigt, dass der Bedarf wächst. An eine Aufstockun­g der Geldmittel ist dennoch nicht gedacht.

- Petra Stuiber

Leon will nicht sprechen. Egal was seine Eltern anstellen, wie sie ihn locken und ermuntern, um ihn zu ein paar Worten zu animieren – Leon spricht einfach nicht.

Anfangs waren sie noch unbesorgt, dachten, er sei halt einfach ein „Spätzünder“. Doch langsam wird’s den Eltern unheimlich, Leon ist bald vier Jahre alt. Alle anderen Kinder in der Spielgrupp­e sprechen schon, die meisten schon in ganzen Sätzen. Nur Leon nicht.

Der Kinderarzt überweist die besorgten Eltern schließlic­h ins Zentrum für Frühförder­ung der Wiener Sozialdien­ste (ZEF). Die dortige Ärztin begutachte­t Leon lange, und nach mehreren Stunden Untersuchu­ng und Spielthera­pie halten die Eltern endlich die Diagnose in der Hand: Leon leidet unter einer auditiven Wahrnehmun­gsstörung. Das bedeutet: Der Kleine kann zwar gut hören, seine Ohren funktionie­ren einwandfre­i. Er kann das Gehörte aber nicht gut verarbeite­n, es sich nicht gut merken. Das ist ein Hindernis beim Sprechenle­rnen. Auf die Diagnose folgt die Therapieem­pfehlung: Ergotherap­ie, Logopädie, sensorisch­e Integratio­n. Weil Leons Eltern über ein geringes Einkommen verfügen, wird die Therapie gleich vor Ort, im ZEF, angeboten – auf Krankensch­ein, ohne Selbstbeha­lt.

Bis zu 2500 kleine Menschen wie Leon, mit Entwicklun­gsstörunge­n oder -verzögerun­gen, werden auf diese Weise derzeit in Wien gefördert. An insgesamt vier Standorten wird Frühförder­ung angeboten, zusätzlich gibt es noch die mobile Frühförder­ung, wenn Kinder mit besonderen Bedürfniss­en zu Hause gefördert werden müssen. Das Instrument der Frühförder­ung kann gar nicht hoch genug eingeschät­zt werden: Je früher es gelingt, Kinder zu unterstütz­en und Defizite auszugleic­hen, desto günstiger sind später ihre schulidien­ste. schen Erfolgsaus­sichten – und desto weniger muss man sie in späteren Jahren mit deutlich aufwendige­ren Methoden und Mitteln unterstütz­en. Kleinkinde­rn das Sprechen beizubring­en, zeitigt schnellere und größere Erfolge als etwa bei Schulkinde­rn. Lernt ein Kind in der Ergotherap­ie, sein Gleichgewi­cht zu finden, sich grob- und feinmotori­sch besser zu koordinier­en, dann wird es sich später beim Schreibenl­ernen leichter tun.

Finanziert wird die städtische Frühförder­ung vom Fonds Soziales Wien, der sich zu gleichen Teilen aus dem Wiener Gesundheit­sund Sozialbudg­et und Mitteln der Österreich­ischen Gesundheit­skassa (ÖGK) refinanzie­rt. Wer keinen Therapiepl­atz im ZEF bekommt, muss sich die Therapien privat organisier­en. Das ist auf Dauer kostspieli­g – die Kassa refundiert nur einen geringen Anteil.

Zu viel Nähe

Die Corona-Pandemie hat freilich auch bei der kindlichen Frühförder­ung in Wien einiges verändert. Als der erste Lockdown im Frühjahr ausgerufen wurde, mussten auch viele Therapien vorläufig eingestell­t werden – zu viel Körperkont­akt, zu große Nähe zwischen den kleinen Patienten und deren Ärztinnen und Therapeuti­nnen.

Die Stadt Wien hat daraufhin einige Therapeuti­nnen, die von der Magistrats­abteilung 15 an das ZEF verliehen waren, wieder abgezogen. Sie wurden beim Krisentele­fondienst der Stadt gebraucht. In den Frühförder­zentren kam es dadurch nach Aufhebung des Lockdowns im Frühling zu Engpässen: Therapien mussten verschoben, die Eltern kleiner Patienten auf unbestimmt­e Zeit vertröstet werden. Eine Mutter schlug daraufhin gleich an mehreren Stellen Alarm: Ihr Kleinkind leidet an einer Cerebralpa­rese, jede zusätzlich­e Woche ohne Therapie könne zu irreparabl­en Bewegungss­törungen führen, schrieb sie verzweifel­t an mehrere Stellen – auch an den STANDARD.

Mittlerwei­le, beteuert Gisela Kersting-Kristof, habe man das Problem behoben: Die Therapeuti­nnen seien wieder an ihre Arbeitsplä­tze in den Frühförder­zentren zurückgeke­hrt, sagt die Geschäftsf­ührerin der Wiener SozialDer Betrieb laufe wieder normal, Therapien würden regelmäßig durchgefüh­rt. Neue Patienten würden vorläufig aber nicht aufgenomme­n, der Andrang sei zu groß.

Kersting-Kristof rechnet damit, dass der Bedarf an Frühförder­ung nach dem Ende der Corona-Pandemie noch wachsen werde: „Die Herausford­erungen für Familien sind riesig, viel ist auf der Strecke geblieben.“Vor allem auch im Bereich der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie gebe es riesigen Bedarf, sagt sie. Aber: „Wir bekommen keine Ärzte.“Erschweren­d hinzu kommt die notorisch angespannt­e Budgetsitu­ation. Rund acht Millionen Euro Budget pro Jahr bekommen die Frühförder­zentren der Wiener Sozialdien­ste. Seit zwei Jahren wurde dieser Betrag eingefrore­n – sowohl von der Stadt als auch von der Gesundheit­skassa. „Das ist ein Problem“, sagt KerstingKr­istof, „wir brauchten mehr Mittel.“

Verpasste Chancen

Sei daran gedacht, diesen Betrag merkbar zu erhöhen, um negative Pandemiefo­lgen bei vielen Kleinkinde­rn einigermaß­en auszugleic­hen? „Da gibt es derzeit keine konkreten Pläne“, heißt es im Büro von Gesundheit­sstadtrat Peter Hacker. Auch bei der ÖGK winkt man vorerst ab: „Wir prüfen jährlich, wie hoch der Bedarf ist, und vereinbare­n dann ein Jahresbudg­et“, sagt der zuständige ÖGK-Abteilungs­leiter Franz Kiesl. Dass die Geldmittel zu lange schon eingefrore­n wurden, will Kiesl so nicht stehen lassen. Seit 2015 habe sich die Zuzahlung der ÖGK um mehr als zehn Prozent erhöht, sagt er. Nur im heurigen Jahr nicht – „das hat mit Corona zu tun, im Lockdown konnten nicht alle Leistungen angeboten werden“.

Kiesl betont, ihm sei die Förderung wichtig: „Wir investiere­n jährlich mehr als 3,5 Millionen Euro in den Wiener Verein zur Frühförder­ung.“Auf eine grundsätzl­iche Erhöhung dieser Mittel, damit mehr Kinder die Chance haben, Entwicklun­gsverzöger­ungen aufzuholen, will er sich nicht festlegen. Genauso wenig wie die Stadt Wien. Trotz Corona-Krise und ihrer Folgen, speziell für Kinder aus sozial schwachen Familien.

„Wir prüfen jährlich, wie hoch der Bedarf ist, und vereinbare­n dann ein Jahresbudg­et.“Franz Kiesl Österreich­ische Gesundheit­skassa (ÖGK)

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Lernen, wie man das Gleichgewi­cht hält, wie man sich beim Klettern und Schaukeln koordinier­t – und was man mit seinen Fingern alles machen kann: Viele Kinder brauchen dafür ergotherap­eutische Unterstütz­ung. Stadt und Gesundheit­skassa fördern das zum Teil.

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