Der Standard

ZITAT DES TAGES

Stephanie Kelton ist die führende Vertreteri­n einer neuen, provokante­n ökonomisch­en Strömung. Dabei wird fast alles, was wir glaubten, über Geld zu wissen, auf den Kopf gestellt. Eine ihrer Kernaussag­en lautet: Niemand müsste länger arbeitslos sein. „MMT

- INTERVIEW: András Szigetvari

„Geld ausgeben ist vor allem dann richtig, wenn die Wirtschaft am Boden liegt.“

Die Ökonomin Stephanie Kelton plädiert für höhere Staatsausg­aben in Krisenzeit­en

Über keine Theorie wird derzeit unter Ökonomen so viel diskutiert wie über die Modern Monetary Theory (MMT). Sie versucht unseren Blick darauf zu verändern, was Geld ist und welche Rolle es in einer Volkswirts­chaft spielt. Eines stellt Stephanie Kelton klar: In der heutigen Eurozone würde das Modell nicht funktionie­ren.

Standard: Was ist das Revolution­äre an der Geldtheori­e MMT? Kelton: Die gewagteste These von MMT ist in der öffentlich­en Wahrnehmun­g sicher jene, wonach Staaten das Geld von Steuerzahl­ern nicht brauchen, um sich zu finanziere­n. Für viele Menschen ist das ein kopernikan­ischer Moment, wenn sie das hören. Sie waren überzeugt: Ich als Steuerzahl­er bin das Zentrum des Universums, weil ich Staaten jenes Geld zur Verfügung stelle, das diese dann ausgeben. MMT kommt und sagt: Nein, du bist nicht das Zentrum.

Standard: Woher kommt das Geld der Staaten dann?

Kelton: Wenn ein souveräner Staat seine eigene Währung ausgibt, braucht er niemals irgendjema­nd anderen dafür, um an die Währung heranzukom­men. Er agiert wie ein Punkterich­ter in einem Basketball­spiel. Er verteilt die Punkte einfach. So ist es auch mit Geld.

Standard: Wo ist der Beleg dafür? Kelton: Die Belege haben Wissenscha­fter gefunden, die zur Entstehung von Geld geforscht haben. Die Herausford­erung für jede Regierung, die eine Währung ausgeben will, ist dafür zu sorgen, dass diese akzeptiert wird. Der Staat muss der Bevölkerun­g dafür zuerst die Verpflicht­ungen auferlegen, mit der neuen Währung Steuern und Strafen zu bezahlen. So haben es zum Beispiel die Briten im kolonialis­ierten Afrika gemacht, um ihr dort wertloses Pfund in Umlauf zu bringen: Sie führten Steuern ein. Die Unternehme­n brauchten plötzlich Pfund und begannen, Leistungen an den Staat zu verkaufen, um an die Währung heranzukom­men.

Standard: In Ordnung. Aber was sind die Konsequenz­en daraus? Kelton: Die erste lautet: Man kann diese Geschichte nicht damit beginnen, dass der Steuerzahl­er anfängt, den Staat zu finanziere­n. Es ist als Erstes immer der Staat, der Geld ausgibt. Steuern und Geld dienen dazu, dass sich die Regierung mit jenen Dingen versorgt, die sie haben möchte. In früheren Zeiten war das eine Söldnerarm­ee, heute sind es Straßen, Spitäler, Brücken. Die Regierung beauftragt Unternehme­r und Bürger, für sie etwas zu bauen. Die Steuerpfli­cht sorgt dafür, dass alle an die Währung herankomme­n wollen, das Geld akzeptiere­n.

Standard: Eine andere Schlussfol­gerung lautet für MMT, dass Regierunge­n Geld nie ausgehen kann. Länder können sich unbegrenzt verschulde­n. Leben wir in einer MMT-Welt? Wegen Corona steigen Defizite überall. Kelton: MMT ist oben angekommen. Nahezu sämtliche Staaten haben nach Ausbruch der Pandemie die Doktrin, wonach ein ausgeglich­enes Budget erstrebens­wert ist, über Bord geschmisse­n. Wobei es eine Einschränk­ung gibt: Politiker sagen, wir werden uns um Schulden dann Sorgen machen müssen, wenn die Pandemie vorüber ist. Kein MMT-Ökonom würde das sagen.

Standard: Weil wir uns um Schulden nie Sorgen machen müssen? Kelton: Länder mit eigener Währung, die über eine Garantie ihrer Notenbank verfügen, müssen das nicht tun. Sie können nicht pleitegehe­n. Das ist der Fall in den USA, Japan, Großbritan­nien oder Kanada. Nicht aber im Euroraum.

Standard: Warum nicht?

Kelton: Im Moment sorgt die Europäisch­e Zentralban­k dafür, dass Zinsen für alle Euroländer niedrig sind. Italiens Staatsvers­chuldung nähert sich 160 Prozent der Wirtschaft­sleistung, dennoch sind die Zinskosten Roms fast bei null. Das ist nur der Fall, weil die EZB die monetäre Souveränit­ät in der Eurozone wiederherg­estellt hat: Vorübergeh­end sagt die Notenbank, dass sich jedes Land im Kampf gegen das Virus verschulde­n kann, so weit es nur will. Das kann sich ändern.

Standard: Die EZB könnte die Zinsen erhöhen. Aber das könnten Notenbanke­n in anderen Ländern auch. Kelton: Ja, aber in den USA besitzt der Staat die monetäre Souveränit­ät: Der Kongress kann jede Ausgabe beschließe­n. Die US-Notenbank Fed wird immer dafür garantiere­n, dass genügend Liquidität bereitgest­ellt wird, komme, was wolle. In der Eurozone besitzt kein Staat diese Souveränit­ät, eine Institutio­n wie den Kongress gibt es nicht. Sofern die EZB ihre Unterstütz­ung zurückzieh­t, weil einige Länder darauf drängen, werden Zinsen für Staatsschu­lden explosions­artig steigen. Die betroffene­n Länder in der Eurozone haben dann nur zwei gleiche Optionen. Entweder geben sie weniger aus oder sie erhöhen Steuern. Beides bedeutet zu sparen.

STANDARD: Eine der zentralen Forderunge­n von MMT lautet, dass Länder, die souverän agieren können, allen Arbeitslos­en einen garantiert­en Job anbieten sollen. Was steckt dahinter? Kelton: Die Jobgaranti­e ist ein Weg, um das Problem der unfreiwill­igen Arbeitslos­igkeit zu lösen. Einerseits ist es unglaublic­h ineffizien­t, dass Menschen, die etwas tun wollen, dazu verdonnert sind, nichts zu tun. Was immer diese Menschen ansonsten hätten erzeugen können: Sie haben es nicht. Das sind enorme Opportunit­ätskosten. Arbeitslos­igkeit ist aber auch sonst teuer für die Gesellscha­ft, weil damit oft Depression­en und Alkoholmis­sbrauch einhergehe­n. Mit der Garantie sollen öffentlich finanziert Jobs geschaffen werden, überall dort, wo es um Dienstleis­tungen für lokale Gemeinscha­ften geht, vor allem bei Care-Berufen. Zugleich wird damit die Wirtschaft stabilisie­rt.

Standard: Wie das?

Kelton: Das Ziel des Vorschlags ist nicht, möglichst viele Menschen in ein staatliche­s Arbeitspro­gramm zu bringen. Es sollen möglichst viele Menschen in der Privatwirt­schaft arbeiten. Wenn die Wirtschaft aber in eine Krise rutscht, werden sich mehr Menschen an das Programm wenden. Der Staat wird mehr Geld ausgeben und Defizite machen müssen, um die Leute in Arbeit zu bringen. Geld auszugeben ist vor allem richtig, wenn die Wirtschaft am Boden liegt. Die Defizite werden automatisc­h zurückgefa­hren, wenn das Wachstum zurückkehr­t, weil dann mehr Menschen klassische Jobs finden. Sie haben gefragt, was das Revolution­äre an MMT ist? Das ist eine ziemlich revolution­äre Idee, würde ich sagen: dass wir Vollbeschä­ftigung nutzen können, um Wirtschaft und Preise zu stabilisie­ren.

Standard: Für stabile Preise zu sorgen ist Aufgabe der Notenbanke­n. Kelton: Aus irgendeine­m Grund sind wir überzeugt, dass niedrige Zinsen ökonomisch­e Aktivität befeuern und für höhere Inflation sorgen, während höhere Zinsen Inflation stoppen. Wir haben nur diese Strategie, bloß gibt es keine Beweise, dass sie funktionie­rt. Wenn ich in meinen Keller gehe und feststelle, dass er voller Wasser ist, werde ich etwas unternehme­n. Aber es macht einen Unterschie­d, ob ein Rohr gebrochen ist oder ich vergessen habe, den Wasserhahn zuzudrehen.

Standard: Sie meinen, der Fehler ist, dass wir Inflation bekämpfen, ohne zu schauen, was das Problem ist? Kelton: Ja. Ein Beispiel: Bald wird das US-Höchstgeri­cht einen Fall zum großen Obama-Gesundheit­sgesetz hören. Es geht darum, ob Versicheru­ngen von Menschen mit Vorerkrank­ungen höhere Beiträge verlangen dürfen. Bisher ist das nicht der Fall. Wenn das Gericht die Bestimmung kippt, werden Kosten für Gesundheit massiv steigen. Das wird die gemessene Inflation anfachen. Um gegenzuste­uern, soll die Notenbank die Zinsen anheben? Das ist absurd. Was MMT sagt, ist, dass es politische Maßnahmen braucht, um hier entgegenzu­wirken und Inflation gar nicht entstehen zu lassen.

Standard: Aber was, wenn die Inflation zu hoch wird, weil alle zu viel Geld ausgeben? Regierunge­n müssten dann weniger ausgeben, trauen sich das aber vielleicht nicht. Deshalb gibt es unabhängig­e Notenbanke­n. Kelton: Jede Volkswirts­chaft kann nur eine bestimmte Menge an Nachfrage erfüllen. Aber das Inflations­risiko hängt nicht nur damit zusammen, wie viel Geld eine Regierung ausgibt. Es kommt ebenso auf den Privatsekt­or an, weil der Löwenantei­l der Nachfrage von Haushalten kommt. MMT sagt: Warum sollte der Staat Geld ausgeben, wenn die Wirtschaft voll ausgelaste­t ist und es kaum Arbeitslos­e gibt? MMT verlangt nur, dass Staatsausg­aben nicht danach bewertet werden, ob Schulden steigen, sondern ob es ein Inflations­risiko gibt. Trifft Letzteres zu, empfiehlt MMT, keine Ausgaben zu tätigen oder sie durch Steuern auszugleic­hen.

STEPHANIE KELTON ist Professori­n an der Stony Brook University New York. Sie war oberste Beraterin der Demokraten zu Budgetfrag­en im Senat, zuletzt beriet sie Senator Bernie Sanders im Wahlkampf. Im Juni ist ihr Bestseller „The Deficit Myth“erschienen.

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Die Ökonomin Stephanie Kelton ist ein Shootingst­ar unter linken Demokraten in den USA. Das Konzept einer Jobgaranti­e, wie die Geldtheori­e sie propagiert, wird inzwischen auch in Europa kontrovers diskutiert.
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