Der Standard

Frankreich­s neue Terrorgene­ration

Kein Terroransc­hlag veränderte Frankreich so stark wie das Massaker im Pariser Konzertlok­al Bataclan am 13. November 2015. Gewandelt hat sich in den letzten fünf Jahren auch das Profil der Attentäter.

- Stefan Brändle aus Paris

Insgesamt 130 Todesopfer, 410 Verletzte und eine in ihren Grundfeste­n erschütter­te Nation: Das war die furchtbare Bilanz des „13 novembre“, als Paris gleich dreifach vom Terror heimgesuch­t wurde. Vor dem Stade de France jagten sich Attentäter in die Luft, nachdem sie – zum Glück – nicht zum Freundscha­ftsspiel Frankreich – Deutschlan­d zugelassen worden waren, drei andere erschossen auf Bistroterr­assen des Bastille-Viertels 39 Gäste. Dann folgte, als apokalypti­sche Vision des modernen Terrorismu­s gegen hilflose Zivilisten, das Blutbad im Bataclan.

Die Eagles of Death Metal spielten gerade vor 1500 Fans, als ein vermummtes Trio in den Konzertsaa­l stürmte und mit Kalaschnik­ows in die Menge schoss, um dann gezielt Einzelpers­onen zu exekutiere­n. 17 Minuten lang dauerte der Horror. Draußen waren ein paar Soldaten rasch zur Stelle, doch sie erhielten die Weisung, nichts zu unternehme­n.

Im Ausnahmezu­stand

Nur ein mutiger, bis heute unbekannte­r Polizeikom­missar wagte sich mit seinem Chauffeur in den Saal. Er streckte einen Attentäter nieder, der gerade auf einen vor ihm knienden Konzertbes­ucher zielte. Die zwei anderen Terroriste­n stellten daraufhin das Töten ein und verbarrika­dierten sich mit Geiseln in einem Nebenraum. Nach Mitternach­t wurden sie von Elitepoliz­isten neutralisi­ert, ohne dass ein weiteres Opfer zu beklagen war. Präsident François Hollande rief in Frankreich den Ausnahmezu­stand aus.

Aus Syrien übernahm die Medienagen­tur Amak der Terrormili­z IS die Verantwort­ung für den Anschlag in Paris, das von ihr als „Stadt der Abscheu und Perversion“bezeichnet wird. Frankreich mobilisier­te seine Kräfte, stellte Tausende von Polizisten ein. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zogen wieder Militärpat­rouillen über die Flanierbou­levards. In den Schulen wurden Fünf- und Sechsjähri­ge auf Plakaten instruiert, wo sie sich im Fall eines Terrorangr­iffs zu verstecken hätten.

Die Ermittlung zeigte rasch, dass die Operation aus der syrischen Islamisten­hochburg Raqqa ferngesteu­ert war. Der später in einem Pariser Vorort erschossen­e Chefkoordi­nator Abdelhamid Abaaoud hatte seine Instruktio­nen am Tatabend via Handy aus Brüssel erteilt.

Erschrecke­nd war für die Franzosen, dass die Terroriste­n aus der Nähe stammten, aus Frankreich und Belgien, wo sie ein teilweise ganz gewöhnlich­es Leben führten. Zum Beispiel Samy Amimour, der die Musikfans eiskalt hingericht­et hatte: Der Frankoalge­rier war im Pariser Vorort Drancy in einer verwestlic­hten Familie aufgewachs­en, hatte einen guten Job als Buschauffe­ur.

„Banlieue-Terrorismu­s“

„Diese Jungs aus der zweiten Einwandere­rgeneratio­n sprechen besser Französisc­h als ihre Eltern, sie trinken Alkohol, rennen den Mädchen nach“, versuchte der Islamexper­te Olivier Roy zu erklären. „Eines schönen Tages bekehren sie sich zum Salafismus und verdrehen ihren Nihilismus und Selbsthass in den Hass auf den Westen.“

Banlieue-Jugend, Syrien-Krieg, IS-Indoktrini­erung – dieser gefährlich­e Cocktail kam häufiger vor als angenommen, wie die Franzosen nach dem „13 novembre“zur Kenntnis nehmen mussten. Die S-Kartei (das „S“steht für „sûreté“, Sicherheit) enthält 12.000 Namen radikalisi­erter Islamisten. Der sogenannte Banlieuete­rrorismus wahrt sein überaus gefährlich­es Potenzial. In den letzten fünf Jahren ist er mutiert, ja metastasie­rt, wie die drei jüngsten Attentate in Frankreich zeigen. Den Messerangr­iff von September nahe der ehemaligen Charlie Hebdo-Redaktion verübte ein vor drei Jahren zugereiste­r Pakistaner. Im Oktober ermordete ein 18-jähriger Tschetsche­ne den Geschichts­lehrer Samuel Paty; dann brachte ein am Vortag zugereiste­r 21jähriger Tunesier drei Kirchgänge­r in Nizza um.

Alle drei Täter kamen von außen und handelten nach ersten Erkenntnis­sen aus eigenem Antrieb. Der Mörder von Nizza kaufte seine drei Messer nur Stunden vor der Attacke; der Lehrermörd­er von Conflans musste Schüler dafür bezahlen, dass sie ihm die Person Paty zeigten. Und der Pakistaner, der sich offenbar nur online informiert­e, glaubte irrtümlich, dass die Charlie-Redaktion immer noch am Ort des Attentates von Jänner 2015 liege.

Keine Profis

„Das sind keine Profis wie die Bataclan-Killer“, sagt Olivier Roy heute. „Sie folgen keinem Kalifat, sie sind bloß wütend über eine ‚Gottesläst­erung‘. Viele haben ein Suchtprobl­em; eine Anleitung von außen brauchen sie aber nicht mehr.“

Einzelne haben über Komplizen oder Beziehunge­n zu Radikalisl­amisten verfügt. Bei der Enthauptun­g des Lehrers in Conflans genügte ein SMS-Austausch mit einem islamistis­chen Wanderpred­iger, der keiner Moschee angehört. „Während sich die Bataclan-Generation häufig über Brüder oder Haftkumpel­s formiert hatte, handeln die Lowcost-Terroriste­n heute meist allein“, so Roy.

In den Gefährderd­ateien kommen sie nur selten vor. Das mache die Arbeit für die Ermittler überaus schwierig, meint der Islamexper­te, der nicht verhehlt: Der Jihad in Europa braucht keinen Anstoß mehr. Er rollt heute von selbst.

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Nach dem dreifachen Terrorangr­iff in Paris mit 130 Toten im Jahr 2015 herrschten internatio­nal Trauer und Fassungslo­sigkeit. Auch fünf Jahre später sind die Opfer unvergesse­n.

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