Der Standard

Wenn Nord- und Südpol schmelzen – ein neuer Blick auf das Werk des Dramatiker­s Heiner Müller

Genau 25 Jahre nach seinem Tod harrt das Werk des ehemals wichtigste­n deutschen Dramatiker­s einer gründliche­n Neueinschä­tzung: Heiner Müller (1929–1995) hatte die ökologisch­e Wende bereits fest im Blick.

- Ronald Pohl

Ob der Großteil seines dramatisch­en Werks vor den Furien des Verschwind­ens zu retten sein wird, steht in den Sternen. Der ostdeutsch­e Autor Heiner Müller (1929–1995) beharrte bis zu seinem Tod auf der Wachhaltun­g der linken Utopie. Die DDR, deren bornierte Verwalter ihm mit Verboten zusetzten, galt ihm noch lange nach der Wende 1990 als der – letztlich aussichtsl­os gebliebene – Versuch, auf deutschem Grund und Boden „ein gutes Deutschlan­d blühen“zu lassen: „wie ein andres gutes Land“.

Letztlich seien die Länder des Ostblocks nach 1945 jedoch zu „gefrorenen Kesseln“gemacht worden. Nach innen habe man die sozialisti­schen Staaten „kolonisier­t“. Und während er den Zuschauern des Westfernse­hens nach 1990 bereitwill­ig die Welt erklärte, nuckelte Müller an seiner unvermeidl­ichen Zigarre. Er erklärte auf Nachfrage mit sturer Freundlich­keit, dass die Strukturen des Kapitalism­us keinen Stoff mehr für Dramen hergäben. Rom (Washington) hätte mit Karthago (Moskau) endgültig sein Gegenüber, damit sein Korrektiv verloren. Der Kapitalism­us reiche nunmehr ungehinder­t bis in den letzten Dritte-Welt-Winkel hinein.

Writer’s Block

Weil Müller an einem „Writer’s Block“von ungeahnten Ausmaßen litt, schien er seinerseit­s zu Stein erstarrt. Der vielleicht einzige wirksame Nachfolger Bertolt Brechts verkörpert­e nebeneinan­der die Rollen des Theaterdir­ektors am Berliner Ensemble, des Kulturfunk­tionärs (als Akademiepr­äsident) und des charmanten Orakels. Durch folgenlose­n Ruhm um die gesamte Wirkung gebracht: Fast wäre für Müllers Stücke, Der Lohndrücke­r, Die Umsiedleri­n, Zement und wie sie alle betonschwe­r heißen, das Totenglöck­chen zu läuten. Und dennoch enthält Müllers Werk, 25 Jahre nach seinem Krebstod, einen erst noch zu entschlüss­elnden Gehalt.

Ein neues Bändchen mit lauter Müller-Zitaten ist als schmuckes Lexikon aufgemacht. Es nennt sich Der amerikanis­che Leviathan, herausgege­ben von Frank M. Raddatz. Es reicht auf 300 Seiten von „A“(wie „Amerikaerf­ahrung“) bis „Z“(wie „Zweiter Weltkrieg“). Die USA hatte Müller erstmals 1975 bereist, und die Unermessli­chkeit des Raums, die letztlich nicht zu bewirtscha­ftenden Ränder einer Landschaft, die sich hinterm Horizont verläuft, bescherten ihm eine Form von Epiphanie. Die Hässlichke­it der Industriel­andschafte­n in West wie Ost ist menschenge­macht. Sie enthält keinesfall­s das letzte Wort zu unserer Zukunft.

Die „Landschaft“setzt sich gegen die restlose Vereinnahm­ung durch Profitmaxi­mierer zur Wehr. Und so entdeckte Müller neue Zentrierun­gen: Er lenkte die Aufmerksam­keit weg vom werktätige­n Menschen. Der brave Prolet schöpft zwar mit der Maurerkell­e, hat jedoch von der Steigerung der Produktivi­tät selbst nichts zu erwarten. Das „postdramat­ische“Theater Müllers besitzt hingegen neue, (noch) unsichtbar­e Helden. Es sind die „Toten“, für deren Gleichbere­chtigung Müller unermüdlic­h wirbt. Darüber hinaus soll das revolution­äre Subjekt mit der Landschaft verschmelz­en und solcherart einen neuen Träger der Utopie erschaffen: „Mit jedem Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf ihre Knochen (…). Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaft sein, unsre Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt. Ich werde Wald sein, Berg, Meer, Wüste.“(Der Auftrag, 1979)

Jenseits der Bedeutung

Es fällt leicht, hinter der Wortgewalt eines solchen Appells den ökologisch­en Aspekt zu übersehen. Die Geschichte als menschenge­machtes Spektakel verliert zusehends an Gewicht. Landschaft als eine dem Zugriff entzogene Kategorie konstituie­rt ein „Jenseits der Bedeutung“. So nennt Raddatz das Müller’sche Ringen um Freiheit: Lücken sollen entstehen, Orte, auf die keine Staatsmach­t der Welt mehr einen Zugriff behaupten kann. Nichts soll mehr symbolisch identifizi­ert werden; die koloniale Ausbeutung, bis dato Bedingung für unsere Prosperitä­t, verliert ihren Schrecken.

Dem Kapitalism­us hat Müller rechtzeiti­g Bescheid gesagt: „Wenn als Folge der Klimaversc­hiebung, ein Triumph der Technik, Nord- und Südpol schmelzen, holt der Atlantik vielleicht seine Hauptstadt heim, das Wasser den Beton, schwimmen die Haie durch die Banken.“(1987) Nicht den sozialisti­schen Maurern von Brennöfen gehört unbedingt die Zukunft auf unseren Bühnen. Zu suchen wäre in den Weiten von Heiner Müllers Werk nach Figuren einer neuen, größeren Hoffnung: Man müsste sie aus den poetischen Geröllfeld­ern dieses Titanen erst neu zusammenkr­atzen.

Heiner Müller, „Der amerikanis­che Leviathan“. Ein Lexikon. Hrsg.: Frank M. Raddatz. € 18,50 / 352 Seiten. Suhrkamp (es 2756), Berlin 2020

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Glück der Produktion: Heiner Müller, fotografie­rt vor der Bühnentür des Deutschen Theaters 1989.

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