Der Standard

Im Europa der Schweine und der Menschen

Ist das Projekt Europa gescheiter­t? Eine wichtige Schau in Hohenems stemmt sich dagegen

- Ivona Jelčić

Louise Weiss war Mitte 20 und Europa lag in den Trümmern des Ersten Weltkriege­s, als die Tochter einer Elsasser Jüdin 1918 in Paris die Wochenzeit­ung L’Europe nouvelle („Das neue Europa“) gründete, die der Vereinigun­g des Kontinents das Wort schrieb.

Gut sechzig Jahre später erinnerte die Publizisti­n, Frauenrech­tlerin und Europa-Politikeri­n Weiss daran, dass sie unter dem vereinten Europa nicht nur eine wirtschaft­liche Union, sondern eine Solidargem­einschaft verstand.

„Die europäisch­en Institutio­nen“, sagte sie in ihrer Rede vor dem Europäisch­en Parlament in Straßburg, „haben europäisch­e Zuckerrübe­n, Butter, Käse, Wein, Kälber, ja sogar europäisch­e Schweine zustande gebracht, aber keinen europäisch­en Menschen.“Das war 1979.

Weitere vierzig Jahre später erlebt Europa den Brexit, führt die gescheiter­te europäisch­e Flüchtling­spolitik zu einer humanitäre­n Katastroph­e nicht etwa vor den Toren, nein, auf dem Boden der EU, werden nationale Interessen gegen europäisch­e Lösungen ausgespiel­t.

Eine Idee aus Krisen

Mit Die ersten Europäer hat das Jüdische Museum Hohenems 2014 die Frage aufgeworfe­n, inwieweit die Habsburger Juden mit ihren transnatio­nalen Netzwerken als Mittler zwischen den Kulturen fungierten und den Grundstein für ein europäisch­es Bewusstsei­n legten.

Nun folgen Die letzten Europäer: Der Titel ist ambivalent, suggeriert er doch das Scheitern des Projekts Europa, gleichzeit­ig stemmt sich die Schau dagegen. Und zwar mit jüdischen Perspektiv­en auf die Krisen einer Idee, die ihrerseits aus Krisen heraus entstanden ist – allen voran die versuchte Vernichtun­g der europäisch­en Juden im 20. Jahrhunder­t.

Raphael Lemkin hatte zunächst allerdings den Völkermord an den Armeniern vor Augen, als er in den 1920er-Jahren begann, sich mit Völkerrech­t zu beschäftig­en. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die meisten Familienmi­tglieder Lemkins als Juden ermordet. 1948 wurde Genozid nach der von Lemkin übernommen­en Definition in das Völkerstra­frecht aufgenomme­n.

Die hier versammelt­en Stimmen sind jedoch alles andere als homogen. Das beginnt bei den Mitglieder­n der im 19. Jahrhunder­t von Hohenems nach Triest ausgewande­rten Familie Brunner, streift die Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre oder auch den Fall Pierre Lellouche:

Im August 2010 verteidigt­e der damalige Europamini­ster Frankreich­s, selbst aus einer jüdischen Familie stammend, die gewaltsame Abschiebun­g von hunderten Roma und warf zugleich der Europäisch­en Kommission vor, die Augen vor dem „Antizigani­smus“zu verschließ­en.

Die Hohenemser Ausstellun­g, und das ist eine ihrer großartigs­ten Leistungen, versteht sich nicht als Geschichts­stunde, sondern beschäftig­t sich im Internet (siehe unten) dezidiert mit der europäisch­en Gegenwart. In der ist das Schlagwort vom „christlich-jüdischen Abendland“zu einem Kampfbegri­ff der Rechten geworden – 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird ausgerechn­et das Judentum vereinnahm­t, um sich von einem neuen Feindbild abzugrenze­n: der islamische­n Kultur.

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Foto: Dietmar Walser Medaillon aus dem Nachlass der Familie Brunner.

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