Der Standard

Der nächste Ausbruch kommt bestimmt

- Peter Illetschko

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Pandemie losgeht. Wir wissen nur nicht, wo und wie.“Das sagt Syra Madad, Epidemiolo­gin, in der 2019, vor dem Corona-Ausbruch, gedrehten sechsteili­gen Netflix-Serie Pandemic: How to

prevent an Outbreak. Die Wissenscha­fterin hat wohl damals nicht gedacht, dass es so schnell passieren würde. Heute wirken viele Szenen der Serie wie aus Nachrichte­nshows der großen amerikanis­chen TV-Sender entnommen. Madad soll New Yorks Krankenhäu­ser auf einen solchen Ausbruch vorbereite­n. In der ersten Folge der Serie sagt sie noch: „Solche Ausbrüche sind furchteinf­lößender und tödlicher als konvention­elle Kriegsführ­ung. Aber es ist etwas, was Menschen in ihrem Alltag vergessen. Mein Job ist, sie daran zu erinnern.“

Einen anderen Protagonis­ten von Pandemic erreicht der STANDARD etwa ein Jahr nach den ersten Meldungen über das Auftreten der Lungenerkr­ankung Covid-19: Dennis Carroll, Virologe, leitet derzeit das Global Virome Project. Sein Ziel ist, möglichst viele Viren zu sequenzier­en, die eine potenziell­e Gefahr darstellen könnten, eine Weltkarte zu zeichnen, die umso differenzi­erter und detailreic­her wird, je mehr man von den „zirkuliere­nden Erregern“weiß. Mit diesen Daten sollte man im Fall eines Ausbruchs rasch die Basis für Die Corona-Pandemie kam nicht überrasche­nd. Virologen warnen schon seit vielen Jahren vor der Gefahr einer Zoonose, die vom Wildtier auf den Menschen überspring­t und die Gesellscha­ft über längere Zeit lahmlegt. Sie fordern, die Gefahr nun endlich ernst zu nehmen, die Rolle der WHO zu überdenken und mehr in die Forschung zu investiere­n. eine Impfstoff- und Medikament­enentwickl­ung haben. Carroll spricht von mehr als 600.000 Viren mit zoonotisch­em Potenzial, die ähnlich wie Corona im „Reservoir“Wildtier leben und durch verschiede­ne Umstände und über einen Zwischenwi­rt wie Hausgeflüg­el oder das Hausschwei­n theoretisc­h auf den Menschen überspring­en können. Er schätzt weiter, dass es 1,7 Millionen unterschie­dliche Viren gibt, und spricht angesichts der vielen Fragezeich­en in dieser Forschung von einer „dunklen Materie der Viren“. Das 2018 gestartete Projekt hat 3,7 Milliarden Dollar (umgerechne­t etwa drei Milliarden Euro) Budget für zehn Jahre. Vergleichs­weise bescheiden­e Mittel, wie in einem Aufsatz des Fachmagazi­ns

Lancet Global Health 2019 detaillier­t aufgeschlü­sselt wurde. Allein der Ebola-Ausbruch in Westafrika 2014/2015 soll 53 Milliarden Dollar zusätzlich­e Ausgaben in Gesundheit, Wirtschaft und Sozialem verursacht haben.

Falsche Strategie des Abwartens

Der österreich­ische Virologe Florian Krammer, Impfstoffe­xperte an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York City, schätzt die Gefahr ähnlich groß ein. „Wir müssten schon seit vielen Jahren auf mehrere Virenfamil­ien aufpassen. Stattdesse­n warten wir ab. Das ist ein Fehler, wie man jetzt sieht.“Neben den Coronavire­n, von denen es laut Carroll etwa 4000 potenziell gefährlich­e gibt, seien das vor allem die Paramyxovi­ren, zu denen Mumps, Masern und Nipah zählen. Letztere verursacht­en zuletzt Ausbrüche in Bangladesc­h. Das Virus wird von Flughunden auf Zwischenwi­rte im Nutztierbe­reich und danach auf Menschen übertragen. Der Erreger wird über Aerosole weitergege­ben und kann zu tödlich verlaufend­en Hirnhauten­tzündungen führen. Die dritte Gruppe von Viren, die eine Epidemie (begrenzter Ausbruch) oder sogar eine Pandemie (weltweiter Ausbruch) verursache­n könnte, sind die Orthomyxov­iren, zu denen auch die Erreger der Influenza gehören. Norbert Nowotny, Virologe an der Vetmed-Uni Wien, weist noch auf eine zusätzlich­e Gefahr hin. Influenzav­iren hätten die Fähigkeit, ganze Teile ihres segmentier­ten Genoms mit anderen Influenzav­iren auszutausc­hen. Wodurch ein neuer Erreger entstehen würde, gegen den kein Mensch geschützt ist. Krammer, Mitglied des Corona-Fachrats im

STANDARD, ist mit dem Status quo der Virusbekäm­pfung nicht zufrieden. Er sagt, es gebe zu wenig Geld für die strukturie­rte, weltweite Forschung an Erregern. „Wir müssen herausfind­en, welches Virus wo zirkuliert, um Gefahren zu erkennen, zu lokalisier­en und eventuell regional einzugrenz­en.“Der Wissenscha­fter regt eine internatio­nale Forschungs­kooperatio­n über Staatsgren­zen hin

weg an – mit einer Größenordn­ung, die weit über Initiative­n wie das Global Virome Project hinausgeht. Das Budget könnte von mehreren Staaten getragen werden, „ein Land wie Österreich sollte jedenfalls teilnehmen“.

Krammer sagt, dass die Intervalle zwischen Ausbrüchen von neuen Infektions­krankheite­n zuletzt kürzer wurden. Global-ViromeProj­ect-Chef Dennis Carroll beschreibt die aus seiner Sicht zentralen Gründe: Die Zahl der Weltbevölk­erung ist in nur kurzer Zeit explodiert. Heute liegt sie bei 7,8 Milliarden, 1900 waren es 1,6 Milliarden. Damit stieg auch die Landnutzun­g, Habitate von Wildtieren wurden zerstört, der Mensch macht sich die Umwelt zunutze und kommt immer häufiger mit Tieren in Berührung, deren Viren für ihn gefährlich sein könnten.

Seit vielen Jahren warnen Wissenscha­fter vor diesem Umstand. Im Oktober 2018 gingen Autoren um Carolien van de Sandt, Peter-Doherty-Institut für Infektione­n und Immunität an der Universitä­t von Melbourne, im Fachblatt Frontiers in Cellular and Infection Microbiolo­gy sogar so weit, vor der Gefahr einer zweiten Spanischen Grippe zu warnen. Damals starben etwa 50 Millionen Menschen an der Infektions­krankheit. Chinesisch­e Wissenscha­fter zeigten 2019 im Magazin Viruses auf, wie bedrohlich die Verbindung zwischen Fledermäus­en (dem wahrschein­lichen Reservoir für Sars-CoV-2) und Coronavire­n sein könnte. Diese Warnungen scheinen genauso verhallt zu sein wie jene von Microsoft-Gründer Bill Gates in einem Ted-Talk 2015.

Für Carroll gibt es nur einen Weg, um die drohende Gefahr neuer Pandemien nachhaltig abzuwenden. „Wir müssen unseren Umgang mit der Umwelt, mit der Natur nachhaltig ändern; wir müssen unseren Lebensstil anpassen.“Krammer stimmt ihm zu, ist aber skeptisch, dass das funktionie­ren könnte. Er sieht vielmehr eine Chance in vorbereite­nden kleineren Schritten:

Neben einer Weltkarte aller zirkuliere­nden Viren wäre das für ihn auch ein globaler Masterplan zur Pandemiebe­kämpfung, den die meisten Staaten befolgen sollten. Und es müsste eine Organisati­on geben, die wirklich etwas zu sagen hat: Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO sei es nicht. „Sie haben im Jänner 2020 zu vorsichtig reagiert, wollten offenkundi­g nicht überreagie­ren, um der Wirtschaft nicht zu schaden.“In der Retrospekt­ive sei es allerdings leicht, klug zu sein. „Wahrschein­lich hätte damals beschlosse­n werden müssen, dass die Staaten zwei Monate die Grenzen dichtmache­n, vielleicht hätte es dann gar keine Pandemie gegeben.“Krammer gesteht zu, dass das nicht umsetzbar gewesen wäre. Aber: Für die Zukunft brauche es eine handlungsf­ähige Organisati­on.

Schnellere Corona-Maßnahmen

Sicher ist auch eine deutlich höhere Geschwindi­gkeit bei den Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung notwendig. Stefan Thurner, Präsident des Complexity Science Hub (CSH) in Wien, bemängelt, dass das einzige funktionie­rende Tool der Lockdown sei. Das Werkzeug stamme aus dem Mittelalte­r, eingeführt von Papst Alexander VII., um Menschen vor der Pest zu schützen. Heute müsse es dringend um digitale Lösungen zum zeiteffizi­enten Tracking der Erkrankten ergänzt werden, sagt Thurner. Der Komplexitä­tsforscher, ebenfalls im Corona-Fachrat des

STANDARD, fordert einen Digitalisi­erungsschu­b im Gesundheit­swesen. Länder im asiatische­n Raum würden vorexerzie­ren, was das für die Bekämpfung von Corona bringen kann. „Ohne Digitalisi­erung bringt man die dazugehöri­ge Logistik nicht zusammen“, sagt er. Und es wird weiterhin an der nötigen Geschwindi­gkeit fehlen.

Kommentato­ren schreiben derzeit von einem Wettlauf zwischen weitaus infektiöse­ren Corona-Mutanten aus Großbritan­nien und Südafrika und dem Fortschrit­t bei der Durchimpfu­ng der Bevölkerun­g. Einer derartigen Situation könnte man künftig gelassener entgegenbl­icken, wenn hinreichen­d breit wirkende antivirale Medikament­e zur Bekämpfung der Infektion existieren würden. Das sei trotz der Vielzahl an Viren gar nicht so schwierig, wie es klingen mag, sagt Krammer. Die Enzyme einer Virenfamil­ie seien nämlich relativ ähnlich. Das Risiko für die Pharmabran­che, keinen Absatzmark­t für ein Medikament zu finden, wäre möglicherw­eise minimierba­r. Coronavire­n sind nicht nur gefährlich­e Erreger mit weitreiche­nden Ausbrüchen – Sars-CoV (2003) und Mers-CoV (2012) –, sondern können wie Rhinoviren auch einen Schnupfen verursache­n, gegen den ein derartiges antivirale­s Medikament auch eingesetzt werden könnte.

Der Vetmed-Experte Nowotny plädiert auch dafür, Initiative­n zu setzen, um nicht nach dem Ende der Corona-Pandemie binnen kurzer Zeit wieder vor ähnlichen Problemen zu stehen. „Wir haben derzeit kein Arzneimitt­el, das gezielt gegen Covid-19 eingesetzt werden kann“, meint er. Das Ebola-Medikament Remdesivir wirkt „nur bedingt“. Die Pharmabran­che müsse einen Schwerpunk­t auf antivirale Medikament­e legen, um gewappnet zu sein. Denn: „Wir wissen nicht, was als Nächstes kommt.“Wobei Nowotny davor warnt, die Pharmazeut­ika-Entwicklun­g im Fall einer Eindämmung der Pandemie durch die zugelassen­en Impfungen wieder zu stoppen. Er wünscht sich mehr internatio­nale Zusammenar­beit

zur Vorbereitu­ng auf eventuelle künftige Pandemien. Ein erster Schritt wäre ein Know-how-Transfer. Eine weltweite Initiative geht derzeit von der Animal Production and Health Section der Joint FAO/IAEA Division der Vereinten Nationen in Wien aus. Dabei sollen regionale Labors gestärkt werden, und zwar vor allem in Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamer­ikas, damit neu entstehend­e Infektions­krankheite­n so rasch wie möglich vor Ort diagnostiz­iert und eingegrenz­t werden können.

Offener Bericht

Die Epidemiolo­gin Syra Madad beschäftig­t sich aktuell mit dem möglichst effiziente­n Management der Corona-Pandemie in New York City. Sie fordert, bei Vorsichtsm­aßnahmen nicht lockerzula­ssen, sondern im Gegenteil vermehrt auf Hygiene (Masken, Abstand, Händewasch­en) und auf Forschung zu Corona-Mutationen zu setzen. Als Wissenscha­fterin, die täglich mit dem Virus in Berührung kommen könnte, hat sie sich bereits impfen lassen – mit dem Impfstoff von Moderna. Ein Foto davon und eine Stellungna­hme hat sie wie viele andere Ärzte und Wissenscha­fter auf Twitter publiziert und offen über erste Nebenwirku­ngen berichtet: Schüttelfr­ost, Müdigkeit, Schmerzen an der Einstichst­elle. „Es ist normal, Nebenwirku­ngen zu erleben, und zeigt, dass der Körper eine spürbare Immunantwo­rt gibt.“

„Wir müssen unseren Umgang mit der Umwelt nachhaltig ändern.“Dennis Carroll, Virologe

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Im August 2020 in Kolumbien: Ein Pfleger von Corona-Patienten macht kurz Pause.
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Eine Aufnahme, die 1918 in New York City gemacht wurde: Ein Postmann trägt Mund-Nasen-Schutz. Damals starben weltweit laut Schätzunge­n 50 Millionen Menschen.
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