Kitzbühel, auf das Wesentliche konzentriert
Kitzbühel steht gleichsam kopf. Das Tiroler Herz der Skifahrt muss die 81. Hahnenkammrennen ohne rauschende Partys über die Bühne bringen. Dafür rückt der Sport ausnahmsweise in den Mittelpunkt.
Die 81. Hahnenkammrennen sind wegen Corona Geisterrennen, Kitzbühel ist sozusagen eine Geisterstadt. Wobei, Skifahren geht auch ohne Weißwurstparty. Heute und am Samstag wird auf der legendären Streif abgefahren, am Sonntag folgt ein Super-G. Matthias Mayer (Bild), der Abfahrtssieger des Vorjahres, hatte im Abschlusstraining 2,77 Sekunden Rückstand auf den Schnellsten, auf Vincent Kriechmayr.
Maria Hauser will das Beste draus machen, sich die Rennen mit der Familie bei Weißwürsten im Fernsehen anschauen. Beim Stanglwirt allein zu Haus. Das sei ein Novum in der bald 300-jährigen Geschichte, in der die Familie tagtäglich für ihre Gäste da war, sagt die Juniorchefin in Going. Just zum 30-Jahr-Jubiläum fällt die pompöse Weißwurstparty für die Schickeria aus. Hauser: „Wir schauen mit Mut und Demut nach vorn. Das Leben geht weiter. Nichts ist so beständig wie der Wandel. Man muss sich verändern, um weiter Bestand zu haben.“
Rosi Schipflinger bedauert, dass heuer alle Veranstaltungen des ansonsten sehr illustren Programms nicht steigen können, auch nicht die Party mit Schnitzel vom Vollmilchkalb in Rosi’s Sonnbergstuben. „Es ist traurig, aber da müssen wir durch“, sagt die Inhaberin des Almgasthofs. „Gott sei Dank können die Rennen stattfinden“, schickt die „singende Wirtin“nach, die normalerweise den Jetset empfängt. Die 77-Jährige ist dankbar, gesund zu sein. Aktuell singe sie sehr viel und sei positiv eingestellt. „Die Musik hat mir in meinem Leben sehr viel geholfen. Sie befreit die Seele.“2017 sorgte ihr Hoppala beim Partyauftakt für Schmunzeln: „Weiße Gipfel, blaue Berge – na, blauer Himmel, weiße Gipfel – i glaub’, i hab’ a bissl z’viel Weißwein trunken.“
Musik im Kammerl
Wenn es Frau Schipflinger einmal nicht so gut geht, dann studiert sie in ihrem „Kammerl ein neues Lied ein“. Jeder habe so seine Rituale. Obwohl sie nicht streng gläubig sei, hat sie sich eine private Kapelle bauen lassen. „Der liebe Gott wird es schon richten. Vielleicht war es ein Fingerzeig, vielleicht müssen wir mal auf den Boden zurück, vielleicht musste es so kommen.“Momentan genieße sie jedenfalls die Aussicht hinüber zum Hahnenkamm.
Drüben im Zielbereich der Streif berichten selbst Rennläufer von
leichten Irritationen. Da, wo für gewöhnlich zwischen dem zweistöckigen VIP-Zelt des Kitz Race Clubs für Reich und Schön und den Stahlrohrtribünen für die Prominenz der Kategorien von A bis D munteres Treiben herrscht, liegt diesmal einfach nur frischer Schnee. Nicht einmal Schlagerstar Hansi Hinterseer zieht mit wallender Mähne und weißem Overall lässige Schwünge. Dabei müsste er sich heuer nicht einmal aufdringlicher Autogrammjäger erwehren.
Vermehrten sich über die Jahre noch Videowalls beinahe wie Pilze am Hausberg, so ist heuer Minimalismus Trumpf. Werbeträger sind lediglich dort angebracht, wo sie von den TV-Kameras wirksam erfasst werden können. Darüber hinaus wäre es freilich sinnlos. Das fällt auch in der Altstadt auf, wo die sonst dicht aneinandergereihten DJBühnen, Werbesäulen, Punschstände und Verpflegungsstationen diesmal komplett fehlen. Stationen zum Auftanken braucht es nicht, da am
Wochenende keine aus Zügen stolpernde Fans zu erwarten sind, die beim Versuch, das Gemisch in der Thermoskanne mit Hochprozentigem zu verfeinern entsetzt feststellen, dass der „Frostschutz“schon bei ihrer Ankunft aus ist.
Sorge um Sport
Statt des alljährlichen, von medialem Getöse begleiteten Kurzauftritts von Marcel Hirscher sprang heuer dessen früherer Rivale und Spezi Felix Neureuther ein. Der Deutsche kam, um sein Buch Für die Helden von morgen zu präsentieren, und nicht, wie er eingangs scherzte, ein Comeback in der Abfahrt zu wagen. Es gehe ihm darum, die Jugend wieder für Sport zu motivieren. „Wir müssen etwas verändern, sonst wird es für den Skisport beim Thema Nachhaltigkeit schwierig werden.“
Verantwortliche der Verbände will er zum Nachdenken anregen. Es gebe zu viele Disziplinen und zu viele Rennen. Der deutsche Slalomsieger
am Ganslern 2010 und 2014 wetterte gegen Kommerz, Korruption und eingerostete Strukturen. „Es kann nicht sein, dass der Verband möglichst viel Geld lukriert, der Sportler muss an erster Stelle stehen.“Das Motto „Höher, stärker, mehr“sei kontraproduktiv. Auch wegen der vielen Verletzungen müsse man sich Gedanken machen.
In Kitzbühel musste man nicht darüber nachdenken, wie man den Sport wieder mehr in den Mittelpunkt rückt. Das hat die Pandemie nebenbei erledigt. Die Rennläufer können sich auf das Wesentliche konzentrieren. Schnellster beim Abschlusstraining auf einer mittlerweile schlagiger gewordenen Streif war Vincent Kriechmayr. Die Meteorologen sind für die heutige Wengen-Ersatzabfahrt (11.30 Uhr, ORF 1) sehr zuversichtlich. Für die Hahnenkammabfahrt am Samstag, in die Matthias Mayer als Vorjahressieger geht, und den Super-G am Sonntag sehen die Prognosen deutlich bescheidener aus.