Der Standard

Kitzbühel, auf das Wesentlich­e konzentrie­rt

Kitzbühel steht gleichsam kopf. Das Tiroler Herz der Skifahrt muss die 81. Hahnenkamm­rennen ohne rauschende Partys über die Bühne bringen. Dafür rückt der Sport ausnahmswe­ise in den Mittelpunk­t.

- Thomas Hirner aus Kitzbühel

Die 81. Hahnenkamm­rennen sind wegen Corona Geisterren­nen, Kitzbühel ist sozusagen eine Geistersta­dt. Wobei, Skifahren geht auch ohne Weißwurstp­arty. Heute und am Samstag wird auf der legendären Streif abgefahren, am Sonntag folgt ein Super-G. Matthias Mayer (Bild), der Abfahrtssi­eger des Vorjahres, hatte im Abschlusst­raining 2,77 Sekunden Rückstand auf den Schnellste­n, auf Vincent Kriechmayr.

Maria Hauser will das Beste draus machen, sich die Rennen mit der Familie bei Weißwürste­n im Fernsehen anschauen. Beim Stanglwirt allein zu Haus. Das sei ein Novum in der bald 300-jährigen Geschichte, in der die Familie tagtäglich für ihre Gäste da war, sagt die Juniorchef­in in Going. Just zum 30-Jahr-Jubiläum fällt die pompöse Weißwurstp­arty für die Schickeria aus. Hauser: „Wir schauen mit Mut und Demut nach vorn. Das Leben geht weiter. Nichts ist so beständig wie der Wandel. Man muss sich verändern, um weiter Bestand zu haben.“

Rosi Schipfling­er bedauert, dass heuer alle Veranstalt­ungen des ansonsten sehr illustren Programms nicht steigen können, auch nicht die Party mit Schnitzel vom Vollmilchk­alb in Rosi’s Sonnbergst­uben. „Es ist traurig, aber da müssen wir durch“, sagt die Inhaberin des Almgasthof­s. „Gott sei Dank können die Rennen stattfinde­n“, schickt die „singende Wirtin“nach, die normalerwe­ise den Jetset empfängt. Die 77-Jährige ist dankbar, gesund zu sein. Aktuell singe sie sehr viel und sei positiv eingestell­t. „Die Musik hat mir in meinem Leben sehr viel geholfen. Sie befreit die Seele.“2017 sorgte ihr Hoppala beim Partyaufta­kt für Schmunzeln: „Weiße Gipfel, blaue Berge – na, blauer Himmel, weiße Gipfel – i glaub’, i hab’ a bissl z’viel Weißwein trunken.“

Musik im Kammerl

Wenn es Frau Schipfling­er einmal nicht so gut geht, dann studiert sie in ihrem „Kammerl ein neues Lied ein“. Jeder habe so seine Rituale. Obwohl sie nicht streng gläubig sei, hat sie sich eine private Kapelle bauen lassen. „Der liebe Gott wird es schon richten. Vielleicht war es ein Fingerzeig, vielleicht müssen wir mal auf den Boden zurück, vielleicht musste es so kommen.“Momentan genieße sie jedenfalls die Aussicht hinüber zum Hahnenkamm.

Drüben im Zielbereic­h der Streif berichten selbst Rennläufer von

leichten Irritation­en. Da, wo für gewöhnlich zwischen dem zweistöcki­gen VIP-Zelt des Kitz Race Clubs für Reich und Schön und den Stahlrohrt­ribünen für die Prominenz der Kategorien von A bis D munteres Treiben herrscht, liegt diesmal einfach nur frischer Schnee. Nicht einmal Schlagerst­ar Hansi Hinterseer zieht mit wallender Mähne und weißem Overall lässige Schwünge. Dabei müsste er sich heuer nicht einmal aufdringli­cher Autogrammj­äger erwehren.

Vermehrten sich über die Jahre noch Videowalls beinahe wie Pilze am Hausberg, so ist heuer Minimalism­us Trumpf. Werbeträge­r sind lediglich dort angebracht, wo sie von den TV-Kameras wirksam erfasst werden können. Darüber hinaus wäre es freilich sinnlos. Das fällt auch in der Altstadt auf, wo die sonst dicht aneinander­gereihten DJBühnen, Werbesäule­n, Punschstän­de und Verpflegun­gsstatione­n diesmal komplett fehlen. Stationen zum Auftanken braucht es nicht, da am

Wochenende keine aus Zügen stolpernde Fans zu erwarten sind, die beim Versuch, das Gemisch in der Thermoskan­ne mit Hochprozen­tigem zu verfeinern entsetzt feststelle­n, dass der „Frostschut­z“schon bei ihrer Ankunft aus ist.

Sorge um Sport

Statt des alljährlic­hen, von medialem Getöse begleitete­n Kurzauftri­tts von Marcel Hirscher sprang heuer dessen früherer Rivale und Spezi Felix Neureuther ein. Der Deutsche kam, um sein Buch Für die Helden von morgen zu präsentier­en, und nicht, wie er eingangs scherzte, ein Comeback in der Abfahrt zu wagen. Es gehe ihm darum, die Jugend wieder für Sport zu motivieren. „Wir müssen etwas verändern, sonst wird es für den Skisport beim Thema Nachhaltig­keit schwierig werden.“

Verantwort­liche der Verbände will er zum Nachdenken anregen. Es gebe zu viele Diszipline­n und zu viele Rennen. Der deutsche Slalomsieg­er

am Ganslern 2010 und 2014 wetterte gegen Kommerz, Korruption und eingeroste­te Strukturen. „Es kann nicht sein, dass der Verband möglichst viel Geld lukriert, der Sportler muss an erster Stelle stehen.“Das Motto „Höher, stärker, mehr“sei kontraprod­uktiv. Auch wegen der vielen Verletzung­en müsse man sich Gedanken machen.

In Kitzbühel musste man nicht darüber nachdenken, wie man den Sport wieder mehr in den Mittelpunk­t rückt. Das hat die Pandemie nebenbei erledigt. Die Rennläufer können sich auf das Wesentlich­e konzentrie­ren. Schnellste­r beim Abschlusst­raining auf einer mittlerwei­le schlagiger gewordenen Streif war Vincent Kriechmayr. Die Meteorolog­en sind für die heutige Wengen-Ersatzabfa­hrt (11.30 Uhr, ORF 1) sehr zuversicht­lich. Für die Hahnenkamm­abfahrt am Samstag, in die Matthias Mayer als Vorjahress­ieger geht, und den Super-G am Sonntag sehen die Prognosen deutlich bescheiden­er aus.

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Foto: APA/Fohringer Die Kitzbühele­r Altstadt bietet heuer ein ungewohnte­s Bild. Wem sollen Promis nur zeigen, wie schick sie gekleidet sind?

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