Der Standard

Europäisch­e Forscher warnen vor Variante B.1.1.7

Zwar dürfte die höhere Infektiosi­tät der Virusmutan­te B.1.1.7 mit 35 Prozent geringer sein als zunächst angenommen – dennoch sind die Folgen katastroph­al, wie sich aktuell an England zeigt. Wissenscha­fter fordern daher eine paneuropäi­sche Anstrengun­g.

- Klaus Taschwer, David Krutzler, Katharina Mittelstae­dt

Bekannt ist die Mutante B.1.1.7 bereits seit mehr als vier Monaten. Sie wurde am 20. September in der südenglisc­hen Grafschaft Kent durch das britische Coronaviru­s-Genom-Konsortium entdeckt. Inzwischen hat sich das Virus in fast allen britischen Kommunen und vor allem in 57 weiteren Ländern ausgebreit­et – doch wie sehr, das ist aktuell eine der großen Fragen.

Die Mutante B.1.1.7 verursacht zwar offensicht­lich keine schwereren Erkrankung­en, doch sie ist nach neuesten Studien vermutlich rund 35 Prozent ansteckend­er als bisherige Varianten. Das ist zum Glück weniger als die zunächst befürchtet­en 70 Prozent, aber schlimm genug: In einem Monat führt das nämlich in etwa zu einer Verfünf- oder Versechsfa­chung der Zahl der Infizierte­n. Was das bedeutet, zeigte sich in den letzten Wochen in Großbritan­nien: Bereits diese um 35 Prozent höhere Ansteckung­srate hat dort zu einem massiven Anstieg der Fälle geführt, der das britische Gesundheit­ssystem an seine Grenzen gebracht und dort auch aktuell zur weltweit höchsten Rate an Corona-Toten geführt hat.

Portugal als mögliches Fallbeispi­el

Dieses Szenario könnte sich in den nächsten Wochen und Monaten in etlichen Ländern wiederhole­n. So deutet dieser Tage in Portugal einiges darauf hin. Dort dürften nach vorläufige­n Schätzunge­n etwa 20 Prozent aller neuen Infektions­fälle auf diese Variante zurückgehe­n, so Gesundheit­sministeri­n Marta Temido. Der Anteil könne bereits nächste Woche auf 60 Prozent steigen. Das nationale Gesundheit­ssystem sei bereits jetzt am Rande des Zusammenbr­uchs. Es mangelt an Betten für die Intensivpf­lege und an Pflegepers­onal, um die Covid-19-Patienten und Patientinn­en zu versorgen.

Am Mittwoch hatten sowohl die täglich gemeldeten Neuinfekti­onen als auch die Zahl der Todesfälle einen Höchststan­d erreicht. Fast 14.700 Ansteckung­sfälle wurden binnen 24 Stunden gemeldet, das ist ein Anstieg gegenüber dem Vortag um 40 Prozent. Zudem wurden 219 weitere Todesfälle in Zusammenha­ng mit dem Virus registrier­t, auch das ein Höchstwert.

Immerhin gibt es auch Hoffnung: In Großbritan­nien haben die am 5. Jänner verhängten, noch härteren Lockdown-Maßnahmen nun doch Effekte gezeigt, und die Infektions­zahlen sanken in den vergangene­n Tagen wieder. Internatio­nale und heimische Experten warnen nun eindringli­ch davor, es gar nicht so weit wie in Großbritan­nien oder Portugal kommen zu lassen.

Zu diesen Warnern zählt auch einmal mehr Christian Drosten. Der deutsche Virologe sagte diese Woche in seinem NRD-Podcast: „Wir müssen jetzt was machen, wenn wir speziell das Aufkeimen der Mutante in Deutschlan­d noch beeinfluss­en wollen. Später kann man das nicht mehr gutmachen, dann ist es zu spät. Er sehe jetzt ein Zeitfenste­r, um die Ausbreitun­g hierzuland­e im Keim zu ersticken.

Aber es sind nicht nur einzelne Stimmen: Angesichts der zu befürchten­den Entwicklun­gen fordert am Donnerstag auch eine Gruppe europäisch­er Wissenscha­fter einen übergreife­nden Eindämmung­splan für den Kontinent wegen B.1.1.7. Und auch die österreich­ischen Koautoren des Appells, der im Fachblatt The Lancet erschien, warnten am Donnerstag in einer Video-Pressekonf­erenz insbesonde­re davor, dass der Anstieg dieser Variante zu Beginn leicht übersehen werden könnte. Wenn sie sich erst einmal voll ausgebreit­et hat, seien Gegenmaßna­hmen umso schwierige­r.

Wenig Wissen über die Varianten

Mitentsche­idend sei, wie hoch die Verbreitun­g hierzuland­e und in Kontinenta­leuropa schon ist, so Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Medizinisc­hen Universitä­t Wien, „denn davon hängt stark ab, wann Effekte in den Infektions­zahlen zu erwarten sind.“Doch diesbezügl­ich weiß man in den meisten Ländern relativ wenig, weil – mit Ausnahme von Großbritan­nien, Dänemark oder Island – bisher nur wenige Viren sequenzier­t werden, um Aufschlüss­e über die Verbreitun­g der Mutanten zu haben.

Auch aus diesem Grund hat die EU-Kommission die Mitgliedss­taaten am Dienstag in einem zwölfseiti­gen Papier dazu aufgeforde­rt, mehr zu sequenzier­en. Konkret sollten laut Kommission zwischen fünf und zehn Prozent der positiven Covid-19-Fälle durch GenomAnaly­se auf Mutationen untersucht werden. Österreich ist von diesem Ziel noch ziemlich weit entfernt – allerdings laut Gesundheit­sministeri­um nicht so weit, wie die Europäisch­e Kommission behauptet.

In einem Ranking der Sequenzier­ungen zwischen September 2020 und 13. Jänner scheint Österreich mit 0,0 Prozent als absolutes Schlusslic­ht auf. Doch das liegt an einem Übermittlu­ngsfehler: Österreich hat allein von September bis Ende Dezember rund 600 Virengenom­e sequenzier­t. Demnächst sollen es 400 pro Woche werden, wie Gesundheit­sminister Rudolf Anschober am Donnerstag ankündigte.

Mehr europäisch­e Zielvorgab­en

Europaweit brauche es aber auch klare Ziele, welche Neuinfekti­onszahlen man erreichen sollte, so die österreich­ischen Koautoren des Lancet-Aufrufs, zu denen neben Klimek auch Gesundheit­sökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) und Politikwis­senschafte­rin Barbara Prainsack (Uni Wien) gehören. Die Wissenscha­fter sprachen sich für die mittlerwei­le breiter akzeptiert­e Sieben-Tages-Inzidenz von 50 aus (50 Neuansteck­ungen pro 100.000 Bewohner und Woche). Bei diesem Wert sei davon auszugehen, dass die Kontaktnac­hverfolgun­g greifen könne und die bekannten Maßnahmen insgesamt deutlich besser wirken, wie Analysen zeigen würden.

Nicht vergessen dürfe man bei alldem, dass es viele gesellscha­ftliche Gruppen gibt, die sich zum Beispiel beruflich oder aus familiärer Sicht einen Lockdown gar nicht mehr erlauben könnten, wie die Politikwis­senschafte­rin Barbara Prainsack betont. Man dürfe nicht nur „mangelnde Compliance kritisiere­n“, es brauche vielmehr größere Anstrengun­gen, um die Lasten der Krise gerechter zu verteilen. Umfragen, die Prainsack und ihre Kollegen machen, würden zeigen, dass immer mehr Menschen nicht aus böser Absicht die Covid-19-Maßnahmen umgehen – viele würden es einfach nicht mehr psychisch und ökonomisch schaffen, sich daran zu halten.

 ?? Grafik: Fatih Aydogdu ??
Grafik: Fatih Aydogdu

Newspapers in German

Newspapers from Austria