Der Standard

Starforsch­er hat Äpfel mit Birnen verglichen

Kritik an der aktuellen Lockdown-Studie der Stanford University

- Peter Illetschko

Wieder einmal Kritik an einer kürzlich publiziert­en Studie der Stanford University, die seit Tagen für Gesprächss­toff in Internetfo­ren sorgt: Ein Team um John P. A. Ioannidis, einem renommiert­en Epidemiolo­gen, hatte in der besagten Publikatio­n Daten einer mathematis­chen Simulation geliefert, wonach das völlige Herunterfa­hren des gesellscha­ftlichen Lebens im Frühjahr 2020 keine positiven Effekte auf die Corona-Infektions­zahlen brachte. Länder wie Deutschlan­d, Frankreich oder die USA, die sich in der ersten Welle für einen Lockdown entschiede­n, hätten in den Statistike­n nicht besser abgeschnit­ten als Schweden oder Südkorea, die sich damals für einen Weg ohne Schließung­en, Mobilitäts­einschränk­ungen und Besuchsver­bote entschiede­n hatten. Bewertet wurden die Infektions­zahlen bis April, sie seien mit oder ohne Lockdown gleicherma­ßen gesenkt worden.

Der Epidemiolo­ge Gerald Gartlehner von der Donau-Universitä­t Krems sieht grobe methodisch­e Mängel in der Studie. Man habe aus den Daten der Länder die Non-Pharmaceut­ical-Interventi­on (NPI), also das Tragen von Schutzmask­en, Abstandhal­ten und verstärkte Hygiene mit Händewasch­en und Lüften, herausgere­chnet, um so auf den tatsächlic­hen Effekt des Lockdowns zu kommen. Dabei habe man spezielle Eigenheite­n von Ländern nicht in Betracht gezogen, meint Gartlehner.

Die Außentempe­ratur in dieser Zeit sei ein Faktor, der in der ersten Corona-Infektions­welle eine Rolle spielte, genauso wie das Vertrauen der Bevölkerun­g in die Maßnahmen der Behörden (in Schweden ist es traditione­ll eher hoch). In Südkorea zum Beispiel hätten die Menschen kein Problem mit der Verwertung von Ortungsdat­en über ihr Smartphone­s, in Mitteleuro­pa sei das traditione­ll ein heikles Thema. All das hätte man in der Studie berücksich­tigen müssen.

Gartlehner meint, die Stanford-Wissenscha­fter hätten „Birnen mit Äpfeln verglichen.“Und er findet einen plastische­n Vergleich zur Methodik der Studie: „Es ist so, als würden zwei Patienten mit Halsschmer­zen zum Arzt kommen, dem einen wird ausschließ­lich eine Gurgellösu­ng verschrieb­en, dem anderen Antibiotik­a, beide Male, ohne davor zu überprüfen, ob es sich um eine Angina handelt.“Am Ende sind beide Patienten geheilt, der Arzt schließt daraus: Gurgellösu­ngen wirken so gut wie Antibiotik­a.

Gartlehner, Mitglied der Corona-Apelkommis­sion, ist Experte in evidenzbas­ierter Medizin und hat als Leiter von Cochrane Österreich vor einigen Jahren eine Tagung mit Ioannidis als Gastrefere­nt veranstalt­et. „Ich schätze ihn sehr, aber hier ist er seiner Verantwort­ung als Letztautor nicht nachgekomm­en.“Das Ergebnis einer Studie müsse plausibel sein, in diesem Fall vermisse er das gänzlich. Der Lockdown habe im Frühjahr Wirkung gezeigt, die Situation damals sei anders zu bewerten als jetzt. Derzeit zeige der Lockdown wenig Wirkung.

Weshalb Gartlehner auch in Richtung österreich­ischer Bundesregi­erung sagt: „Es wäre vernünftig­er gewesen, die Maßnahmen jetzt kurzzeitig deutlich zu verschärfe­n – zum Beispiel die Sessellift­e zu schließen und das Homeoffice für alle Berufe, in denen es möglich ist, verpflicht­end vorzuschre­iben.“Wenn man am Ende des Lockdowns keine deutlich besseren Zahlen aufweisen könne und diesen verlängert, werden „wohl noch mehr Menschen auf die Straße gehen und gegen die Maßnahmen protestier­en“.

„Man hätte den Lockdown jetzt kurz verschärfe­n müssen.“Gerald Gartlehner

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