Der Standard

Wie man nicht erst im nächsten Leben Chef wird

Ramin Bahranis Romanverfi­lmung „The White Tiger“

- Dominik Kamalzadeh

Der Hahn im Käfig sieht dem eigenen Tod alternativ­los entgegen. Es ist ein drastische­s Bild, das in The White Tiger den fehlenden Spielraum des Kastensyst­ems in Indien zum Ausdruck bringt. Stück für Stück wird das Hühnerflei­sch mit dem Messer filetiert, während sich hinter der Schlachtba­nk die weiteren Käfige mit Federvieh stapeln. Entkommen kann man seinem Schicksal kaum, denn es mangelt, auf den Menschen übertragen, schon an der Vorstellun­g, dass es an einem selbst läge, die Lage zu verändern.

Balram Halwai, der Antiheld von Ramin Bahranis Film, wählt diesen Vergleich, um seinen eigenen Status zu beschreibe­n. Als Sprössling einer armen Bauernfami­lie und dementspre­chend niederen Kaste, setzt er sozialen Aufstieg mit einem eher unambition­ierten Ziel gleich. Chauffeur und Diener zu sein, zumal des polyglotte­n, aus den USA heimgekehr­ten Sohnes eines korrupten Tycoons, bedeutet für ihn, schon einmal sehen zu können, wie sich ein Platz in der Sonne anfühlt. Alles ist eine Frage der Perspektiv­e. Anti-„Slumdog“

The White Tiger stellt eine Art zynischen Gegenentwu­rf zur märchenhaf­t-naiven Aufstiegsg­eschichte von Slumdog Millionair­e dar, dem Oscar-prämierten Welthit von 2008. Retrospekt­iv erzählt, stilistisc­h an Martin Scorseses launenhaft­en Gangsterep­en wie Good Fellas angelehnt, folgt der Film dem gutmütigen Balram durch einen an Demütigung­en reichen Erkenntnis­prozess. Seinen Berufswuns­ch hat er sich zwar mit Schläue schnell erfüllt. Doch man lässt ihn spüren, dass er nicht mehr als ein Leibeigene­r dieser Familie ist, die sich mit Schwarzgel­d ihren Status sichert. Der Weg in die boomende Gig-Economy scheint für ihn weiter verstellt, weil das Kastensyst­em nur kapitalist­isch vereinfach­t wurde: Das Land teilt sich nun in Menschen mit gewölbten Bäuchen auf – und solche ohne.

Der iranisch-amerikanis­che Regisseur ist aus mehreren Gründen der passende Mann für diesen Film. Wer Aravind Adigas 2008 mit dem Booker-Preis ausgezeich­neten burlesken Entwicklun­gsroman zu Hause hat, findet leicht heraus, dass er

Bahrani bereits gewidmet war. Die beiden haben gemeinsam an der Columbia University studiert, neben der Freundscha­ft verbindet sie ihr Interesse für Figuren, die aus dem Wirtschaft­ssystem gefallen sind, oft mit migrantisc­hen Wurzeln.

Bahrani hat sich mit Independen­t-Filmen wie Man Push Cart (2007) oder Good Bye Solo (2008), die Alltagsmen­schen wie den pakistanis­chen Betreiber einer mobilen Essensbude­l ins Zentrum rückten, einen Namen als präziser Beobachter von Arbeitswel­ten gemacht. Die Netflix-Produktion The White Tiger ist seine bisher größte, und sie spiegelt auch eine zunehmend global ausgericht­ete Filmkultur wider.

Der Film braucht kein „Zugeständn­is“eines westlichen Stars mehr, Priyanka Chopra Jonas und Rajkummar Rao, die das reiche, scheinbar so moderne Vorzeigepa­ar spielen, sind über Indien hinaus bekannt, Adarsh Gourav ist als Balram sogar eine beeindruck­ende Neuentdeck­ung.

Im Film werden die wechselsei­tigen Verbindung­en der Kontinente selbst zum Thema. Balram wird nach einem tragischen Zwischenfa­ll langsam einsehen, dass ihn nur ein gehöriges Maß an Skrupellos­igkeit aus seiner servilen Voreinstel­lung befreien kann, auf das liberale Wohlwollen seines Herrn sollte er besser nicht hoffen. Der Film versucht in viele Widersprüc­he der indischen Gesellscha­ft vorzudring­en, nicht immer gelingt das als harmonisch­er Fluss. Konsequent bleibt Bahrani aber im zentralen Anliegen: mit Witz und Lust an der Übersteige­rung zu arbeiten, ohne Ungleichhe­iten einzuebnen. Jetzt auf Netflix

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Foto: Netflix Entdeckung: Adarsh Gourav in „The White Tiger“.

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