Der Standard

Beuys als Schamane

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An dieser Geschichte arbeiten sich Apostel und Gegner des als „Guru“verehrten oder als „Scharlatan“geschmähte­n Idealisten seit Jahrzehnte­n ab: Wurde Beuys tatsächlic­h 1944 mit seinem Flugzeug über der Halbinsel Krim abgeschoss­en und dann einige Zeit von Tataren gepflegt, mit Fett eingeschmi­ert und in Filz gewickelt? Oder kam er nach dem Absturz ins Lazarett – oder: Wurde etwa beim Eintrag ins Wehrmachts­lazarettAu­fnahmeregi­ster, auf den sich Zweifler berufen, geschwinde­lt?

Ob wahr oder – wie Ehefrau Eva vermutet – Fiebertrau­m, diese Legende begründete Beuys’ Ruf als Kunst-Schamane: Fett (Ecken!) und Filz (Hut!!) wurden zu seinen wichtigste­n Werkmateri­alien.

Die umfassende Bildung des Bewunderer­s von Leonardo da Vinci gilt als Basis für sein Kunstverst­ändnis: Beuys liebte Naturwisse­nschaften, Rudolf Steiners Anthroposo­phie und Sprache per se. 1950 veranstalt­ete er eine Lesung von James Joyces Finnegans Wake und erweiterte dessen Ulysses um zwei Kapitel.

Kein Gedanke an Beuys ohne den „erweiterte­n Kunstbegri­ff“und die „soziale Plastik“. Sein Diktum, dass „jeder Mensch ein Künstler“sei, hat er wiederholt präzisiert. Er meinte: In uns allen stecke Kreativitä­t. Die soziale Plastik begann für ihn schon beim Denken und bei der Sprache. Er hoffte, dass bald anders gedacht werde, zum Beispiel, wie er pointiert sagte, „mit dem Knie“. Wer Materielle­s und Spirituell­es verbinden konnte, war für ihn ein Schamane.

„Ich bin ein ganz scharfer Hase!“, soll Beuys einmal gewitzelt haben. Seinem Biografen Heiner Stachelhau­s zufolge galt ihm der Hase als „Außenorgan des Menschen“. Ob Hoppler, Biene, Hirsch oder Schwan, das Durcharbei­ten etlichen Getiers trug ebenso zu seinem Ruf als Schöpfer eines neuen Weltmodell­s bei wie seine unbedingte Ökologie. All das machte ihn, seine Aufmüpfigk­eit und seinen körperlich­en Selbstvers­chleiß zum Mythos. (ploe)

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