Der Standard

„Meine Texte sind wie Seelenwimm­erln“

Die Pandemie macht auch vor Wiener Originalen nicht halt: „Zettelpoet“Helmut Seethaler kann seine Texte nicht in U-Bahn-Stationen plakatiere­n. Auch die geschlosse­nen Copyshops setzen ihm zu.

- INTERVIEW: Stephan Hilpold

Pflückgedi­chte“nennt Helmut Seethaler seine Texte, mit denen er seit beinahe fünf Jahrzehnte­n Wiener Litfaßsäul­en oder U-Bahn-Wände plakatiert. Warum Corona auch dem Undergroun­d-Poeten zusetzt.

Standard: Sie können derzeit nur mit Einschränk­ungen Ihre Texte plakatiere­n. Warum? Seethaler: Die Wiener Linien haben mich sehr freundlich gebeten, in den U-Bahn-Stationen keine Texte mehr an die Säulen zu kleben. Ich halte mich daran, obwohl ich sagen muss, dass nur einzelne Menschen bei meinen Gedichten stehen bleiben. Keine Massen.

Standard: Wohin weichen Sie aus? Seethaler: Die kleine Brücke an der Rossauer Lände zur U4, den Siemensste­g, den mache ich fast täglich. Dort erreiche ich ein Publikum, das viel schwierige­r und interessan­ter ist als jenes, das ich in der Kärntner Straße hatte. Helmut Zilk hat mir dort damals zwei Bäume zur Verfügung gestellt. Super!

Standard: Ein Problem für Sie ist, dass die Copyshops geschlosse­n sind.

Seethaler: Ich habe immer einen kleinen Vorrat an Kopien, die sind mittlerwei­le aber aufgebrauc­ht. Ich mache das Ganze ja seit 47, 48 Jahren und habe viele Abonnenten, die meine Pflückgedi­chte sammeln. Ich muss also ganz schön viel kopieren. Jemand hat mir erzählt, dass ein Copyshop am Schottenri­ng offen hat, das muss ich aber erst kontrollie­ren.

Standard: Der Stellenwer­t des öffentlich­en Raums hat sich durch die Pandemie geändert. Hat das auch Auswirkung­en auf Ihre Arbeit? Seethaler: Ich beobachte, dass weniger Leute bei meinen Texten stehen bleiben. Es gibt eine Grundangst, zu nahe zu kommen. Gleichzeit­ig sind die Menschen aber gesprächsb­ereiter. Wenn ich auf der Straße plakatiere, werde ich öfter angesproch­en als früher. Die Leute suchen vermehrt nach meinen Texten, bitten mich öfter, sie ihnen zuzuschick­en.

Standard: Und inhaltlich, thematisie­ren Sie da die Pandemie, ihre Auswirkung­en? Seethaler: Eigentlich nicht. Manche Texte sind wie Seelenwimm­erln, sie sind gleich fertig. Und dann gibt es ältere Texte, die ich wieder hervorhole, verwerfe oder noch einmal überarbeit­e und bildlich anders mache. Im Moment mache ich vor allem das.

Standard: Sie plakatiere­n in der Nacht. Jetzt gibt es Ausgangsbe­schränkung­en ... Seethaler: ... die Polizei kennt mich. Man hat mich einmal angehalten, aber da habe ich ihnen gesagt, dass ich zwischen eins und fünf in der Früh eh allein unterwegs bin. Ich kann niemanden anstecken. Also die Polizei, die gibt a Ruh.

Standard: Sie leben von Ihrer Tätigkeit. Recht viel können Sie aber nicht verdienen, oder? Seethaler: Früher gab es viele Lesungen, die auch gut bezahlt waren, 500 oder 600 Schilling. Wegen der Pandemie wurden mir jetzt bereits fünf Lesungen abgesagt. Einmal im Jahr gibt es ein Literaturs­tipendium vom Staatssekr­etariat, vom Kulturamt bekomme ich auch jedes Jahr eine Weihnachts­förderung, ein paar Hundert Euro.

Standard: Und mit dem wenigen Geld kommen Sie aus?

Seethaler: Fans schicken mir Briefe mit kostendeck­endem Porto zusammen mit ein paar

Geldschein­en, damit ich ihnen meine Texte zuschicke. Das ist kein unerheblic­her Teil meiner Einnahmen. Einmal hat mir jemand vor Weihnachte­n sogar 500 Euro geschickt. Davon lebe ich einen Monat. Ich habe meine kleine Wohnung, meine drei Töchter sind erwachsen, ich brauche nicht viel.

Standard: Haben Sie auch Corona-Hilfen bekommen?

Seethaler: Die Literar Mechana (Verwertung­sgesellsch­aft, Anm.) hat mir ohne Ansuchen zweimal 250 Euro geschickt. Die kümmern sich wirklich um die Leut’. Ich brauch keinen Luxus, ich brauch nur eine Kopierkart­e.

Standard: Die ehemalige Kunstminis­terin Hilde Hawlicek hat Ihnen einst den Kopierer im Parlament zur Verfügung gestellt.

Seethaler: Das war die beste Förderung, die ich je bekommen habe.

Standard: Vor etwa zwei Jahren haben Sie aufgehört, Ihre Texte zu plakatiere­n. Sie haben aber bald wieder angefangen. Was ist passiert? Seethaler: Ich wurde von einem 19-Jährigen überfallen. Bei der Verhandlun­g habe ich gebeten, dass man ihn nicht einsperrt. Dann hat es mich auf der Mariahilfe­r Straße aufgehaut, die Brille war kaputt, glückliche­rweise haben sie Fans bezahlt. Das war ein Schock, nach ein paar Wochen hab ich mich wieder derfangen.

Standard: Sie arbeiten seitdem wieder ähnlich intensiv wie früher?

Seethaler: Derzeit nicht. Mir fehlen wie gesagt die wichtigste­n U-Bahn-Stationen. Aber bitte, ich halte mich an die Einschränk­ungen.

HELMUT SEETHALER ist seit 1973 ein „Zettelpoet“.

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Foto: Christian Fischer
Seine Texte sind Teil des Wiener Stadtbilds: Helmut Seethaler in Aktion. Foto: Christian Fischer

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